Apr 2020

Vor kurzem saß ich im Atelier, eigentlich um Musik zu hören, als mein Blick auf die umstehenden, noch unfertigen Flächen fiel. Ich schaute ohne spezielle Absicht, war eigentlich bei der Musik, aber eben nicht ganz, sondern ein klein wenig auch bei den Bildern um mich herum, und unversehens stellten sich Ideen ein, die mir im Hinblick auf die gestalterische Weiterarbeit verlockend erschienen. Zwar handelte es sich um Gestaltungsimpulse, die ihre bildnerische Bedeutung erst noch unter Beweis stellen mussten. Aber da sie sich ungefragt (wieder einmal wie zufällig) eingestellt hatten, hielt ich sie für Wert, aufgegriffen zu werden.

Bücher, die meinem Geschmack entsprechen, kann ich durchaus öfter lesen. Das spricht für sie.

Teiresias hat keine Probleme mit Fremdsprachen. Mit wem er auch spricht, er besitzt die Fähigkeit, in der Sprache seines Gegenüber zu kommunizieren. Ich muss gestehen, dass ich ihn darum beneide. Allerdings kam sein vorbabylonisches Sprachtalent erst posthum zum Vorschein. Zu Lebzeiten bediente er sich ausschließlich seiner Muttersprache, vermutlich thebanisch eingefärbtes Uraltgriechisch (ich muss ihn mal fragen).

Frauen findet Teiresias hinreißend, schon immer. Der spezifischen Ausstrahlung des weiblichen Wesens kann er sich nicht entziehen. Und er fügt noch an, dass das Bild der Frau, das sein Zeitalter in Kunst und Literatur prägte, das schönste sei, das es je gegeben habe, trotz Rubens. Wo er Recht hat, hat er Recht.

Manchmal ist Zynismus die einzige Möglichkeit, einen Missstand zu diagnostizieren. Therapeutische Interventionen wird man allerdings nicht erwarten dürfen.

Es gibt keine Wahrheit, die immer und zu jeder Zeit Wahrheit bleiben könnte. Deshalb streben wir nach Wahrheit und können nichts Besseres tun, als unser Leben diesem Streben zu widmen.

Ähnlich der ”Banalität des Bösen” (Hannah Arendt) liegen Ignoranz und Niedertracht des Menschen in einer ästhetisch-ethischen Herzschwäche begründet.

Aus seiner Bildecke ruft mir Teiresias zu, ich solle jetzt aufhören mit Sinnieren und endlich damit anfangen, mir ein Bild zu machen (und ihm auch).

Zeit für eigenständige Gedanken, fernab gängiger Denkungsart, entschieden oppositionell.

Als alternder Mensch will ich nicht über meinen Kopf hinweg geschützt, ich will vor allem gefragt werden (ob ich geschützt werden will).

Kunst, die überwältigt, entzieht sich der Analyse. Man wird in sie hineingesogen, durch sie hin(weg)gerissen, und kommt erregt wieder zum Vorschein, zugleich erschöpft vom Kunstexzess. Nicht der Impuls zu (Selbst)Erkenntnis entspricht dieser Kunst, sondern Selbstaufgabe (als ob die Seele Tränen vergießen würde über ihr vergebliches Festhalten am Ich). Kunst dagegen, die unangetastet lässt, die tut, als ob es einen gar nicht gäbe, nichts im Schilde führte mit einem, hat andere Folgen, weitreichendere vielleicht. Sie kriecht einem nach und nach ins Gedächtnis, bis sie sich dort platzergreifend eingelagert hat. Dann bricht sie Erkenntnis los um der Kunsterkenntnis willen. Nicht Selbstaufgabe ist ihr Ziel, sondern (Selbst)Erkenntnis (Ausdruck des freudigen Festhaltens der Seele am Ich).

Trotz mechanischer wie elektronischer Schreibmöglichkeiten, bin ich ein Verehrer der Handschrift, der unmittelbar persönlichsten Ausdrucksform des Menschen.

Vertiefen bedeutet, dass man sich mit dem ersten Spatenstich nicht zufrieden gibt.

Kunst gleicht unterschiedlichen Gewässern. Man muss in sie eintauchen, um früher oder später auf Grund zu stoßen.

Anhaltend verstimmt müsste er über sich sein, da er anhaltend zufrieden mit sich ist. Selbstzufriedenheit müsste ihm als Fehltritt vorkommen, dem der (Ab)Sturz auf den Fuß folgt.

Kunst ist die Geschichte eines intensiven Subjektivismus, ob kollektiv oder personal, der objektiv seinen beredten Ausdruck findet.

Neulich erzählte Teiresias aus seinem Leben. Ich hatte mir eine Flasche Rotwein aufgemacht und war gerade dabei, mir ein Glas einzuschenken, als er zu mir trat. Das Glas Wein, das ich ihm anbot, nahm er zu meiner Verwunderung gerne an. Und er trank es mit sichtlichem Wohlbehagen. Vielleicht lag darin der Grund seiner biografischen Offenheit. Er sei ein einfacher Hirte gewesen. Einer aus dem Volk sozusagen. Ziegen und Schafe zu hüten, habe ihm Spaß gemacht. Den ganzen Tag frische Luft, das habe ihm gut getan. Dazu die Muße, über Gott und die Welt nachdenken zu können (wie man so schön sagt). Doch eines Tages sei es damit vorbei gewesen, wofür die Götter, speziell zwei, verantwortlich gewesen wären. In Griechenland hätten sie ja sehr viele Götter verehrt, göttliche Wesen, die, ihrem Götterstatus entsprechend, nichts zu tun gehabt hätten und das auf ewig. Ein großes und viel diskutiertes Problem, das seine Großmutter (die, die so vortrefflich Hammelfleisch mit Bohnen zubereiten konnte) immer mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht hätte: Müßiggang ist aller Laster Anfang. Und so kam es, dass ... Hier unterbrach er seine Rede, als ob er aus einem Traum aufwachte, wischte sich über die Stirn und meinte sichtlich verlegen, der Wein sei ihm wohl etwas in den Kopf gestiegen. Er müsse sich jetzt zurückziehen. Sprach’s und verschwand in seiner Bildecke.

Wie willst du Fundamente setzen, wenn du nicht in die Tiefe gräbst?

Erziehung dient in weit stärkerem Maß der Anpassung als der Widerstandsfähigkeit.

Aus anfangs rein quantitativen Problemen können sich unversehens qualitative entwickeln.

Wir arbeiten so emsig wie blindlings daran, unsere Lebensverhältnisse in Absterbeverhältnisse zu verwandeln. Damit werden wir weder dem Leben gerecht, noch dem Tod, haben weder dem einen, noch dem anderen gegenüber ein tragbares wie tragendes Verhältnis.

Er kommt nicht drum herum, im Alltagsleben zu funktionieren. Auch wenn man ihm das bei seiner zurückgezogenen Lebensweise nicht zutrauen würde, er ist durchaus in der Lage, mit anderen gut zusammenzuarbeiten. Das geht allerdings auf seine Kosten, wovon er die anderen aber nichts merken lässt.

Neulich diskutierte ich mit Teiresias über Kreativität. Da er einem Volk entstammt, das zu seiner Zeit äusserst kreativ war, hielt er mit seiner Meinung nicht hinterm Berg und äusserte sich darüberhinaus sehr zeitaktuell. Menschen, erregte er sich sofort, die allen Ernstes behaupteten, man könnte seinen beruflichen Alltag kreativ gestalten, hätten keinen Begriff von betrieblichen Strukturen, weder von den heute gängigen und noch weniger von den zu seiner Lebenszeit herrschenden. Das im betrieblichen Alltag gern missbräuchlich gebrauchte Wort Gestaltungsspielraum würde ihnen wenig sagen und von Schillers Auslassungen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen” hätten sie vermutlich noch nie etwas gehört. Das Berufsleben sei alles andere als kunstaffin, rief er zornig, und Kunst am Arbeitsplatz eine idealistische Floskel, die sich im Berufsalltag noch nie hat durchsetzen und sich vermutlich auch nie wird durchsetzen können. Im Grunde, sagte er, fast unmerklich lächelnd, gehe es um guten Geschmack (angesichts bestehender ästhetischer Defizite), deshalb habe das sogenannte normale Leben, ob beruflich und/oder privat, immer einen schlechten, der auch mit viel Geld nicht zu beseitigen wäre.

Was man anderen zu Liebe tut, kann man nicht sich selbst zu Liebe tun. Nächstenliebe und Selbstliebe divergieren. Sie sind nicht einfach in Deckung zu bringen. Etwas bleibt immer auf der Strecke.

Ärgerlich, wenn ein Bild sich nicht fügen will. Das hat - wie sollte es anders sein - in erster Linie mit mir zu tun. Manchmal verfahre ich mich halt, komme nicht ins richtige Gleis, obwohl ich weiß, was zu tun ist. Aber Wissen allein reicht nicht. Irgendwann die Nebenstrecke nehmen, auf dem Nebengleis fahren, auf dem man wie von allein vorwärts kommt, ganz ohne Widerstand, absichtslos und mit Vorsatz. Davon hängt Gelingen ab, in künstlerischer Hinsicht, aber nicht nur.

Etwas um seiner selbst willen zu tun, ganz bestimmt, aber ohne Bestimmung, selbstvergessen wie achtsam, hingegeben und ganz bei sich, ist ein künstlerischer Akt.

Gestern, als ich auf der Terrasse saß und eine Pfeife rauchte, setzte sich Teiresias zu mir, angezogen vom Tabakduft und der strahlenden Sonne, in die er verschmitzt zu blinzeln begann (seine Augen können ja keinen Schaden mehr nehmen). Die Menschen heute hätten kaum noch ein - und schon gar nicht ein erträgliches - Verhältnis zum Tod, kam es von ihm unvermittelt. Das wäre wie damals bei ihnen. Seine Landsleute hätten auch Angst gehabt vor dem Sterben. Und nicht nur das. Sie hätten sich darüberhinaus entsetzlich vor dem Danach gefürchtet: dem Schattensein im Reich der Unterwelt. Davon habt ihr modernen Menschen überhaupt keine Ahnung mehr. Lieber ein Bettler im Diesseits, als ein König im Jenseits, das sagt euch so gut wie nichts, weil es - reden wir mal Klartext - für euch ein Jenseits nicht (mehr) gibt. Für euch zählt nur das Leben hier. Ihm ordnet ihr alles unter, fataler Weise. Bis ins hohe Alter hinein klammert ihr euch daran. Aber Leben gibt es nicht ohne den Tod, so ist das nun mal, Leben und Tod gehören zusammen, täglich. Nachdenklich fuhr er sich über die Stirn, so, als ob ihm gerade noch etwas Wichtiges eingefallen wäre. Natürlich sei die Vorstellung eines Jenseits Unsinn (genauso wie die Annahme, Götter würden sich wohlwollend um menschliche Belange kümmern). Aber vermutlich lebt und stirbt es sich besser mit dieser Vorstellung. Übrigens, dein Tabak duftet herrlich, irgendwie schade, dass uns damals diese Art Rauchkultur unbekannt war.

Nicht Müßiggang ist aller Laster Anfang, sondern Unfruchtbarkeit.

Ich habe zufällig beobachtet, wie Teiresias sich an meinen Tabakdosen zu schaffen machte. Sorgfältig öffnete er eine nach der anderen, griff mit seinen Fingern hinein, verrubbelte Tabakfasern und schupperte genüsslich daran. Auch nahm er eine Pfeife zur Hand, meine schönste, und stellte sich damit prüfend vor den Spiegel (obwohl er im Spiegel gar kein Bild hinterlässt und sich selbst auch nicht sehen könnte).

Worüber ich im Stillen lächeln muss, ist die Verunglimpfung der Erotik, wie sie gern gerade großen Geistern entfährt. Als ob sie keinen Begriff von ihr hätten und nicht wüssten, worüber sie redeten.

Teiresias ist ähnlicher Meinung. Eros sei Lebensprinzip, sagt er, Schöpfungsakt, wie Thanatos übrigens auch (wenn auch in Umkehrung). Das ist in Vergessenheit geraten. Nicht nur der Schlaf, ”kleiner Bruder des Todes”, gäbe einen Vorgeschmack, nein, vor allem im Moment höchster erotischer Ekstase schaue einem Thanatos nachsichtig über die Schulter. Nicht von ungefähr folge dem Liebesakt eine selige, schlafähnliche Erschöpfung.

Wahrheit vermittelt sich höchst individuell. Ohne Ich keine Wahrheit (aber ohne Wahrheit auch kein Ich?).

Als Kunstschaffender bin ich vor allem selbstbezogen. Auf diese Weise habe ich viel zu geben.

Ich liebe Fiktionen. Fantasie ist ein Grundbedürfnis von mir. So gesehen lebe ich realitätsfern.

Wofür es sich zu leben lohnt, fragt man sich solange, bis man sich wieder der eigenen Kindheit erinnert: Damals bewegte einen diese Frage nicht. Damals war alles sinnvoll, ohne sinnvoll sein zu müssen, mal verbunden mit Schrecken, mal mit Freude.

Einem ernsthaft agierenden Künstler gegenüber stellt man keine Vertrauensfrage. Es ist unmittelbar am Werk abzulesen, inwieweit er sich mit seinem (Themen-) Aufgabengebiet vertraut gemacht hat.

Ab einem bestimmten Grad geistiger Auseinandersetzung verlierst du das Bedürfnis Recht zu haben. Das ist das Resultat deiner geistigen Disziplin.

Teiresias macht mir vor, auf geradezu virtuose Art und Weise, wie man reibungslos ins Bild kommt und wieder heraus. Ich selbst habe Schwierigkeiten damit, worüber er insgeheim schmunzelt. Zwar versucht er das geschickt zu verbergen, aber ich sehe ihm seine Schadenfreude an der Nasenspitze an. Böse bin ich ihm deswegen nicht. Im Grund hat er ja Recht, wenn er sagt: Wer nicht im Bild ist, macht Fehler. Wer wüsste das besser als ich?

Lebensüberdruss ist das notwendige Korrektiv für Lebensüberfluss, höre ich Teiresias in seiner Bildecke murmeln.

Vermutlich ist ein gewisser Lebensüberdruss auch (Begleiterscheinung des Alterns) dem Alter geschuldet, das wirklich neuen Erfahrungen nach und nach ferner rückt, ob man das will oder nicht. Salopp formuliert: Bestandswahrung überwiegt Erwerbsdrang.

Unsere Hochkultur gleiche einem zu üppigen und noch dazu überwürzten Gericht, klassische Verfallserscheinung, meint Teiresias während meiner Mittagspause. Man könnte den Eindruck haben, so seine Worte, der Geschmackssinn sei abgestumpft, eine unspektakuläre Sinnesempfindung nicht mehr möglich. In Wirklichkeit aber streike der Geschmack nur, überfordert mit dem quantitativen wie qualitativen Überangebot. Dabei schaut er etwas sehnsüchtig auf mein Käsebrot, von dem ich ihm längst etwas angeboten hätte, wüsste ich nicht, dass er absolut nahrungsabstinent lebt. Man müsste halt Maß halten können, sagt er noch, aber irgendwie gehe das rechte Maß im Lauf der Zeit verloren, warum auch immer, und es brauche eine ganze Weile, bis es sich wieder einwiegte. Dabei fällt sein strenger Blick auf die Waage, die ich zum Abwiegen meiner Malsubstanzen im Regal stehen habe.

Wer frei sein will, muss wissen sich zu binden.

Müßiggang war noch nie etwas Anzügliches oder Verachtenswertes. Im Gegenteil stellt er insgeheim die Grundlage aller ernsthaften kulturellen Errungenschaften dar. Wer sich der Muße hingibt, macht das nicht aus Jux und Tollerei, auch nicht aus Faulheit, sondern er bereitet etwas vor, das später einmal im wahrsten Sinn des Wortes kulturelle Ansichtssache sein kann.

Nicht immer verlässt Teiresias seinen Platz links oben in besagtem Bild, das immer noch, mittlerweile unverkäuflich, in meinem Atelier steht. Manchmal auch ergreift er einfach nur das Wort, ziemlich unvermittelt, wobei ich immer ein wenig erschrecke, wenn er sich so unvorhergesehen an mich wendet. Er habe nie verstanden und verstehe es auch heute noch nicht, sagte er neulich zu mir, dass Menschen glauben, sie könnten sich das Wohlwollen der Götter durch Gebete und Opferhandlungen erzwingen. Er hätte während seiner beruflichen Laufbahn nie auch nur einen Gott kennengelernt, der in irgendeiner Weise Notiz von diesen menschlichen Zumutungen genommen hätte. Überhaupt hätten die Götter mit den Menschen so gut wie nichts am Hut, sie seien irgendwie gar nicht existent für sie. Auf meinen Einwand, dass es doch zahllose Überlieferungen gäbe, die den (mitunter auch sexuellen) Kontakt zwischen Göttern und Menschen belegen würden, antwortete er wegwerfend, dass es sich dabei zwar um oft sehr poetische, aber leider Gottes rein menschliche Erfindungen handelte, menschliche Sehnsüchte halt (denn wer träumte nicht von göttlicher Abkunft?), ganz gewiss aber nicht um Tatsachenberichte. Und du?, hakte ich nach. Wie war das denn bei dir? Du lebtest doch angeblich auch in enger Beziehung zur göttlichen Sphäre. Das stimmt zwar, antwortete er mir, ohne in Verlegenheit zu geraten, aber ich bin die Ausnahme von der Regel. Und, nebenbei, ich habe dieses Privileg mit dem Verlust meines Augenlichts teuer bezahlt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Berechtigt mag es sein und auch erhellend, die Handlungsweisen anderer zu durchleuchten. Weitreichender aber scheint es mir, eigenes Handeln zu diagnostizieren.

Krisen offenbaren die Neigung mancher Menschen zu autoritären Strukturen.

Jede Krise stellt eine Vertrauensfrage persönlicher wie gesellschaftlicher Art.

Gerade in Krisenzeiten ist ein strukturierter Alltag gefragt. Dabei richtet sich das eigene Blicken nach vorn und gewährt der Problematik des Augenblicks nicht mehr Aufmerksamkeit als unbedingt nötig, aber doch so viel, dass das kritische Urteilsvermögen zum Zug kommt.

Da ich weniger Gemeinschaftsmensch bin als Einzelgänger, bereitet es mir keine Probleme Menschenansammlungen aus dem Weg zu gehen.

Die Frage, ob das eigene Verhalten zu einer Gefährdung anderer beiträgt, stellt sich nicht erst während einer Krise. Auf allen Wegen gesellschaftlichen Lebens wurde sie längst vorher festgetreten.

Man spiele nicht unter Krisengesichtspunkten den (vermeintlichen) Lebensschutz des alten Menschen gegen den Lebensgewinn des jungen aus.

Sollte ich mich einschränken müssen, sei das meiner Selbstverantwortung überlassen und nicht einer Staatsverordnung. Dazu gehört auch, dass ich mich in Gefahr bringen und darin umkommen kann. Es geht um Teilhabe mehr als um verordneten Gehorsam, entsprechend einem aufgeklärten Menschen und dem Wesen der Demokratie.

Auch an Einsamkeit kann man in Krisenzeiten sterben.

Eine notwendige wie schwierig zu realisierende Innovation im Zusammenhang mit Krisen ist die Veränderung individueller Alltagsverhältnisse. Selbst- und Mitweltschutz beginnen dort.

Ruhe tritt nicht ein, wenn man sich hinsetzt, sondern wenn man eine Weile gesessen hat.

Die Differenz zwischen Mensch und Mensch ist Befund, Annäherung die Therapie.

Je enger die Beziehung, desto störender die Differenzen, aber vielleicht auch desto notwendiger. Wobei die Frage bleibt, was mehr nötigt, die Differenz oder die Verbundenheit.

Wenn Hingabe und Fürsorge zum alles bestimmenden Wertmaßstab werden, also absolut verbindlich, so, dass er sich gebunden fühlt, festgezurrt in einem Korsett aus Mitmenschlichkeit, dann wird er regungslos, erstarrt geradezu, als ob es so etwas wie Gefühle bei ihm nicht gäbe.

Es gibt Menschen, in deren Gesellschaft man sich unweigerlich schuldig fühlt, ohne dass eine Entschuldigung zur Debatte stünde.

Auch unter moralischen Gesichtspunkten ist er ein Versager. Von Charakter keine Spur.

Wenn man mit einem Menschen zusammenlebt und ihn überhaupt nicht ertragen kann ...

Man sollte den Kritikern die Bücher entziehen und sie selbst besprechen. Überhaupt sollte der kritische Blick zur grundsätzlichen Tagesausstattung gehören (um Licht ins Dunkel der Meinungen zu bringen, der eigenen wie der fremden).

Wenn ich könnte, würde ich davonlaufen. Irgendwo anders hin, irgendetwas Neuem zu (vor dem ich dann wieder davonlaufen könnte). Die Wegbewegung ist mir auf den Leib geschnitten. Deshalb bin ich schwer erreichbar.

Kritisch betrachtet bin ich ohne Bedeutung, aber vollkommen existent, meint Teiresias.

Als Kunstschaffender arbeite ich der Kunstkritik zu. Da diese aber keine Notiz von mir und meinem Werk nimmt, bleibt mir nichts anderes übrig, als diesen Part selbst zu übernehmen. So entsteht unter anderem Selbstkritik.

Als Kritiker wäre ich subjektiv. Ich würde Partei ergreifen nur für mich. Als Selbstkritiker wäre ich das glatte Gegenteil.

Dem Zufall gegenüber gibt es keine kritische Einstellung. Wie sollte man ihn auch fokussieren?

Über das Geschaffene komme ich als Kritiker nicht hinaus. Selbstkritik macht da keine Ausnahme.

Ich mache nichts Besonderes, das aber tagtäglich. Wahrscheinlich unterscheide ich mich in dieser Hinsicht nicht von meinen Mitmenschen.

Oberflächlichkeit gleicht der Spitze eines Eisbergs, der unversehens eine Katastrophe auslösen kann.

Wenn alles gleich gültig ist (verschwinden die Unterschiede, verliert sich Erkennbarkeit), löst sich das Dasein auf in nichts Besonderes.

Jetzt, im Moment, würde ich nichts anderes tun wollen, als das, was ich jetzt, im Moment, tue. Es ist 6.30 h.

Gerade weil sie alltäglich ist, gibt Alltäglichkeit zu denken.

Man kann schwerlich ein Problem lösen, dessen Teil man ist.

Einschränkungen deiner individuellen Freiheit stehen in Verbindung zu deiner individuellen Bedürftigkeit.

Teiresias trägt immer Sandalen. Anderes Schuhwerk kommt für ihn nicht in Frage. Natürlich fällt er mit seiner luftigen Fußbedeckung auf, zum Beispiel, wenn er in einem eleganten Abendanzug die Eröffnung eines Filmfests besucht. Er wird dann gern für einen exzentrischen Schauspieler gehalten. Dazu trägt auch seine, in unseren Breiten ungewöhnliche Kopfbedeckung bei. Ein weißblau gestreiftes Kopftuch, das ihm locker bis über die Schultern fällt und auf dem Kopf zirkulär mit einem geflochtenen Lederband befestigt ist. Mit seiner dunklen Brille macht das einen verwegenen, fast etwas zwielichtigen Eindruck. Zum Glück trägt er immer seine gelbe Armbinde. Sie sorgt für Seriosität. Um noch einmal auf die Sandalen zurückzukommen. Teiresias sagt von sich, er sei ein Fußwesen. Und Fußwesen trügen immer Sandalen, wenn sie nicht sogar barfuß unterwegs wären. Letzteres allerdings nur in südlichen Gefilden.

Ein Irrtum, anzunehmen, die Menschen seien guten Willens. Also warf er seinen guten Willen über Bord. Von Stund an ging es ihm besser. Das Leben machte sogar richtig Spaß.

Kunst als Spiegel des Lebens, der ganz anderes sichtbar macht als erwartet.

Was mich anbetrifft, betrachte ich mich als eine Ansammlung von Materie, die sich so organisiert, dass ich ein Körper bin und der Körper ich bin und ich das so formulieren kann, wie ich das eben getan habe.

In meiner augenblicklichen Existenzform - und ich kenne keine andere und weiß auch nicht, ob es eine andere gibt - sind Seele und Geist ohne Körper nicht zu haben.

Echte Wahrheiten kannst du loslassen, sie werden dir nicht verloren gehen. Überzeugungen dagegen lösen sich auf, sobald du nicht mehr an ihnen klebst.

Im Kreis seiner Zuhörer hatte er sich immer damit gebrüstet, er müsste keine Wahrheiten mehr suchen, er sei wahrheitslos glücklich. Man bewunderte ihn deswegen und hielt ihn für einen radikalen Denker. In Wirklichkeit war ihm nur die Kraft zur Wahrheitssuche abhanden gekommen. Keine Spur von wahrheitslosem Glück.

Nichts ist so verstörend wie Daseinsleere, nichts so befreiend.

Die Krone der Schöpfung liegt im Argen. Zeit für den Mantel des Vergessens.

Wenn es mir gelingen würde, jeden Tag so zu leben, als ob es einen gestrigen nicht gegeben hätte und einen morgigen nicht geben werde, aber im Bewusstsein, dass es einen gestrigen gegeben hat und einen morgigen geben wird, …

Gebe ich die Hoffnung auf, gebe ich mich auf. Das ist vorbehalten nur dem endgültigen Abschied, der aber hoffentlich ein so endgültiger nicht sein wird (wie manche denken).

Meine Tage gleichen einer Ansammlung überzogener Ansprüche, die ich zielsicher verfehle. Zum Sieger bin ich nicht geboren.

Das Verpassen von Gelegenheiten ist meine Stärke. Nichts schlimmer als der rechte Augenblick.

Wenn Kunst nur Kunst wäre, hätte ich überhaupt keine Lust auf sie.

Der Mensch, ein Zufallsbefund.

Fantasie als Teil der Wirklichkeit, der Wirklichkeit erst erträglich macht, zielend in eine ähnliche Richtung wie Wissenschaft und Religion, aber weder ein Glaubensbekenntnis verlangend, noch Wissensgewissheit in Aussicht stellend, wenn auch Erkenntnisgewinn.

Stehe ich mir im Spiegel gegenüber, sehe ich einen anderen. Ich weiß dann für einen Moment nicht, wer ich bin.

Destilliere deine Lebensanschauung aus der Anschauung des Lebens.

Selbst wenn ich wollte, konservativ könnte ich nicht sein. Dazu müsste ich wissen, was sich lohnte konserviert zu werden. Andererseits, ein Leben von der Hand in den Mund?

Neulich stand er unversehens vor mir, an der Kasse im Supermarkt. Teiresias. Gut angezogen war er. Schwarzer Anzug, fein geschnitten, weißes Hemd, schwarze Fliege. Als ob er zu einer Beerdigung gehen würde. Natürlich Armbinde und Brille. Den Stock hatte er anscheinend vergessen. Irritierend waren die altmodischen Sandalen, die nicht so recht zum seriösen Erscheinungsbild passen wollten. Auch die antike Kopfbedeckung war befremdlich, konnte aber als - wenn auch gewagtes - modisches iTüpfelchen durchgehen. In einer Hand hielt er einen Blumenstrauß, in der anderen eine Flasche Champagner. Während er zahlte, raunte er mir verschwörerisch zu: ”Ich geh’ jetzt Wahrheiten begraben, ein für alle Mal. Kommst du mit und stößt mit mir darauf an?”

Teiresias ist kein Feinschmecker. Er bevorzugt die einfache, würzig schmackhafte Küche seiner Heimat. Neulich, als ich selbstvergessen im Atelier stand und vor mich hinpinselte, verriet er mir sein Lieblingsgericht. Er möge außerordentlich gern Hammel mit dicken, weißen Bohnen. Schön fett müsste der Hammel sein und die Bohnen weich geschmort und durchtränkt mit Hammelfett. Und natürlich viel Rosmarin und Thymian und vor allem Salbei, sehr viel Salbei, zart geröstet. Dazu ungesäuertes Brot und ein tiefroter, vollmundiger Wein, der ein klein wenig - nur eine Nuance - nach Harz duften sollte (also doch ein Feinschmecker). Seine Oma hätte diese Speise immer vortrefflich zubereitet. Allein dafür hätte er sie geliebt. Auch in der Unterwelt stünde dieses Gericht ab und an auf dem Speiseplan, aber die Hammelstücke seien immer trocken gebraten und die Bohnen verkocht.

Krisen sind Entscheidungsszenarien, Sie stellen sich ein, wenn man sich zu lange um eine Entscheidung herumgedrückt hat. Nun muss man handeln, um Schlimmeres zu verhüten, z.B. eine Katastrophe.

Krisen haben auch etwas mit Kritik zu tun. Da besteht Wortverwandtschaft.

Ich bin alles andere als krisenfest. Mein Krisenmanagement, sofern ich überhaupt von einem solchen sprechen kann, geht zielsicher an der Sache vorbei. Gäbe es die anderen nicht, ich wäre verloren.

Ich lebe in einem klösterlichen Freudenhaus. Das hat mit Selbstkasteiung mindestens so viel zu tun wie mit erotischer Hingabe. In den Armen meiner Geliebten erneuere ich dann und wann mein zölibatäres Gelübde.

Neulich hatte ich Besuch von Teiresias. Ich saß noch in ein Buch vertieft, obwohl es schon ziemlich spät war. Er kam nicht etwa von draußen, klopfte und bat höflich - wie sich das gehört - um Einlass. Nein, er trat - etwas farbfeucht noch - aus einem Gemälde heraus, das ich einige Tage zuvor fertiggestellt hatte. ”Do you know who’s afraid of - Sorry but ask Teiresias”, stieß er wutschnaubend hervor, die Inschrift des Bildes zitierend, aus dem er entflohen war. ”Weißt du eigentlich, was das für mich bedeutet?”, und seine gebrochenen Augen funkelten mich mehr als vorwurfsvoll an. ”Nicht, dass ich mich fürchten würde, Götter zu coachen, aber sie halten sich nie an das, was ich ihnen rate, grad so wie die Menschen, und wenn der Karren dann feststeckt im Dreck, ziehen sie mich zur Verantwortung”.

Fernab jeglicher Idylle sitze ich an der Einsichtsquelle und zähle Tropfen. Ich glaube, Gott weint.

Gott ist eine Erfindung des Menschen. Zufällig die Genialste, die er je gemacht hat.

Für ihn sind Krisen immer die Krisen der anderen, in erster Linie derer, die in guter Absicht wie in eigener Sache sachverständig über sie reden. Er selbst kennt keine Krisen. Er befindet sich immer in einem kritischen Stadium.

Zu allen Zeiten hatte man großes Interesse daran, eine Bildaussage über die bloße Anwesenheit des Bildlichen hinaus zu erweitern, zu ergänzen, zu vertiefen (verwesentlichen?). Nie war ein Bild nur Bild im Sinne bloßer Sichtbarkeit, weder im weltlichen, noch im religiösen Zusammenhang. Immer vibrierten die Bilder, als ob sie gleich platzen würden vor Gehalt.

Das eigentlich Absurde am Leben ist, dass man meint, man könnte es leben. In Wirklichkeit wird man von ihm gelebt.

Die Abkehr vom Leben um eines höheren Ertrags willen, ist durchaus als Verfehlung zu betrachten, vor allem dann, wenn das Leben dabei zu einem diskriminierten Tatbestand herabgewürdigt wird. Auch ein Atheist kann dazu fähig sein, nicht nur der Rechtgläubige (gar der konfessionelle Fanatiker).

Noch heute erinnert er sich an jenen weit zurückliegenden Tag, der ihm eine bis dahin unbekannte Lebensmisere bewusst gemacht hatte. Vielleicht lag er krank im Bett damals, als sein schweifender Blick auf die umliegenden Mietshäuser fiel, vielleicht war er auch nur missgestimmt. Sein Erschrecken jedenfalls war fundamental (oder handelte es sich eher um Fassungslosigkeit?). Es entzündete sich an der eintönigen Architektur der umliegenden Gebäude, wie er sie durch sein Zimmerfenster sehen konnte. Wie häßlich, dachte er, welch deprimierendes Erscheinungsbild. Und Fragen, die er sich bis dahin noch nie gestellt hatte, und die ihm nun entschieden die Augen öffneten, formulierten sich wie von allein: Was für ein Leben wurde in diesen Häusern gelebt? Was für ein Leben erwartete ihn? War das seine Zukunft, die ihm da ungeschönt vor Augen stand, symbolisch eingefroren in eine eintönige Silhouette freudloser Gebäude?

Du machst das Leben schöner, wenn du etwas mehr gibst als nimmst.

Er richtet sein Augenmerk akribisch darauf sich dem Leben zu entziehen. Fast zwanghaft streift er seinem Leben Schutzkleidung über, um ja nicht in Berührung mit ihm zu kommen.

Und was, wenn der Preis des Fortschritts im Gefolge überbordender Bewegungsfreiheit zu hoch ist? - Eben noch wähnten wir uns auf gerader Strecke zielwärts unterwegs und hätten uns doch nur im Kreis gedreht und wären auf der Stelle getreten wie unter Zwang.

Überhaupt scheint mir das Maß aller Dinge das rechte Maß zu sein (auch im Zusammenhang mit Fortschritt und Beweglichkeit).

Aus lauter Angst vor Alter und Hinfälligkeit rennt er lustlos draußen herum in der Illusion, seinen Körper damit vor Verfall bewahren zu können.

Wie, bitte schön, soll man in Muße spazieren gehen - was auch gesund sein soll - in einer vom Mensch geschaffenen Natur, die mit Muße weitgehend über Kreuz liegt?

Nichts benötigt mehr Distanz und zugleich mehr Nähe als die Liebe.

Man muss es ihm anhaltend bewusst machen, dass es so etwas wie geschenkte Freude gibt. Von allein käme er nicht drauf. Auch wenn man es ihm sagt, er hört den Gesang der Vögel nicht im Halbdämmer des Morgens, den filigranen Schattenwürfen des Sonnenlichts auf der gegenüberliegenden Hauswand spürt er nicht nach und die blumigen Farbtupfen im Garten, die sich selbstlos seiner Netzhaut offenbaren würden, lässt er links liegen. Um das alles schert er sich nicht, hoffnungsloser Fall wie er ist.

Ein schlichtes Gemüt wäre nicht schlecht, fernab von Anspruch und Verstand. Ich säße dann ungeniert am Fenster meines Lebens und blickte hinaus (oder hinein, das wäre egal) ins Leere, ohne mir etwas dabei zu denken.

Heute (und zu allen Zeiten?) scheint Fortschritt der Angst vor dem letzten Schritt geschuldet zu sein, die er zugleich ungewollt generiert.

Nichts steht still im Leben. So trägt Stillstand auch nichts zum Leben bei, außer dass er das Lebensende markiert.

Hat Wahrheit aufgehört ein erstrebenswertes Ziel zu sein, verliert auch Irrtum an Bedeutung. Dann stellt sich Wahrheit von ganz allein ein, wenn überhaupt, ohne Irrtumsverdacht und ohne dass sie als solche benannt werden müsste. Aber was hätte man dann für einen Begriff von ihr?

Eine Wahrheit, die benannt werden kann, ist existentiell. Eine Wahrheit, die gekannt werden kann, aber nicht benannt, ist essentiell.

Technik entfremdet in dem Maß, wie sie dazwischentritt (zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mensch und Ding), und versucht doch zugleich in Entwicklung und Anwendung bestehende Entfremdung zu überbrücken.

Wieder ist der Morgen kalt. Im Auge badet besonnte Natur, im Herz staunt der Verstand sich stumm.

Künstler/innen treten über ihr Werk in Kontakt zu anderen Menschen, ohne dass sie es ausschließlich im Hinblick auf sie realisieren.

Als Kunstschaffender erlebe ich mich mehr oder weniger zwiegespalten zwischen dem Anspruch an mich und meine Arbeit und den Bedürfnissen meiner Umgebung. Dass meine Aufmerksamkeit zuvorderst meinem Werk gilt und mir, was eine viel umfassendere Aufgabe darstellt, als gemeinhin angenommen, können Außenstehende, selbst wenn sie mir sehr nahe sind, nicht recht nachvollziehen. Ihnen ist Kunsttätigkeit ein Tätigsein unter anderem. Es entgeht ihnen, dass man Künstler immer ganz ist, nicht nur auf Zeit, im Sinne der Realisierung eines Werks. Für sie bin ich als Kunstschaffender Egoist per se (auch wenn das etwas übertrieben klingt), da ich anderes und andere hinter meine Belange zurückstelle, so sehr ich das auch auszugleichen suche.

Man sollte Liebe (ich bevorzuge das Wort Zuneigung) weniger an der Intensität des Gefühls festmachen, als am Grad der Aufmerksamkeit, die man einem Menschen schenkt. Taten sprechen da Bände.

Wenn ich lieben soll, ja, wenn Liebe geradezu ein Muss darstellt, bin ich unfähig dazu. Meine Liebesfähigkeit ist alles andere als krisenfest.

Ideologisch verknotete Menschen sind mir unangenehm. Dabei ertappe ich mich selbst ab und an beim Ideologisieren, meist an unvermuteter Stelle.

Seit die anderen keine Fragen mehr an ihn haben, vertritt er nur noch die eigene Sache. Seine Doktrin ist er. So gehen ihm auch die Gesprächspartner verloren, die noch Fragen an ihn hätten.

Ich sehne mich nicht nach Reinheit. Der Flecken auf meiner Weste schäme ich mich nicht. Ich will gelebt haben.

Im Grunde genommen spielt es keine Rolle, warum Bürgerrechte außer Kraft gesetzt werden. Die Tatsache an sich ist in einer Demokratie der Besorgnis erregende Widerspruch.

Er ist in der Verfassung seines Lebens, meint er. Aber sie gleicht einer Kulisse, hinter der nichts steckt als fadenscheiniger Anspruch, sagen andere. Zwar könnte er Bäume ausreißen, gäbe es welche und wäre Ausreißen vorgesehen im Stück, sagt er. Aber man lässt ihn nicht, aus gutem Grund, meinen andere, die vor den Kulissen, die sich das Schauspiel aufteilen nach wie vor.

Zu behaupten das Leben sei sinnlos, ist ungefähr so sinnvoll oder sinnlos, wie es als sinnvoll zu erachten. Ansichtssache. Vielleicht eine Angelegenheit der Wissenschaft, sofern es sich um eine anschauende handelt. Aber wer würde ernsthaft auf die Frage nach dem Sinn oder Unsinn des Lebens von der Wissenschaft eine plausible Antwort erwarten?

Was nicht bewiesen werden kann (was an sich schon beunruhigend ist), existiert entweder nicht oder ist beweismittellos.

Er ist groß geworden mit der Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen (am Zustand der Welt überhaupt). Das war ihm wahrscheinlich schon in die Wiege gelegt, denn in seiner Familie übte niemand Kritik, schon gar nicht an der Gesellschaft. Von weltkritischen Stimmen, Kritikersympathisant der er war, lernte er Skepsis kennen und schätzen. Je scharfzüngiger die Rede, desto besser. Rückblickend kann er das nicht mehr nachvollziehen. Heute geht ihm jegliche Kritik ab. Eine grundlegende Veränderung der Lebensverhältnisse erwartet er nicht mehr, ja, er hält sie nicht einmal mehr für wahrscheinlich. Die Welt ist so wie sie immer war, mittendrin der Mensch, auch so wie er immer war. Das ist nun sein Credo. Aus dem jugendlichen Lebenskritiker mit Umsturzambitionen ist ein alternder Schwarzseher geworden, ein Misanthrop unsympathischer Prägung, der noch in der kleinsten Ungereimtheit eine ihm geltende Verschwörung sieht.

Eine beunruhigende Vorstellung, dass es Menschen gibt, die alles im eigenen Leben, wie im Leben allgemein, als gottgewollt betrachten. Wie soll man da noch Verantwortung übernehmen für sich, für andere, für die Welt? Aber vielleicht ist Zweifel angebracht, gottgewollter.

Jede Errungenschaft im Leben des Menschen verdankt sich einer - wenn auch noch so geringen - Selbstüberhebung. Sie spiegelt sich in der (an sich schon hybriden) Gleichsetzung menschlichen Schöpfungsdrangs mit dem unverbindlichen Spieltrieb (eines angenommenen Schöpfer)Gottes.

Das Einzige, was der Verlust an Leidenschaft uns in Aussicht stellt, ist die Freiheit von Leidenschaft und damit von Leid. Wir entscheiden selbst, ob wir dies als lohnenswert betrachten sollen oder nicht. Vermutlich nimmt uns das Alter in zunehmendem Maße die Entscheidung ab.

Neulich stieß ich auf das Wort Überarbeiten. Ich hatte diesem strebsamen Begriff bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet, obwohl er über die Jahre immer stärker meine gestalterische Arbeit zu infiltrieren begonnen und mich sprichwörtlich ins Bild gesetzt hatte: dass ein Werk zu einem gültigen Werk wird, durch wiederholte Arbeitsschritte, durch Überarbeitungen, die ihm in der Summe den Grad an Reife verleihen, den es aus sich heraus zu fordern Anlass gibt. Trotz des Wiederholens war damit nichts Monotones gemeint, dagegen die Chance, aus der bestehenden Wirklichkeit eines Entwurfs, die durchaus bereits einen gewissen Grad an Stimmigkeit erlangt haben konnte, polytonalen Gewinn zu schöpfen, eine neue Wirklichkeit, die die vorhergehende zu vertiefen, zu verdichten und so in ihrer Ausdrucksintensität zu übertreffen vermochte. Zu einem zwiespältigen Preis allerdings, das hatte ich erfahren müssen, der die Aussicht auf Intensivierung werkspezifischen Ausdrucksgehalts koppelte an die Möglichkeit seiner Minderung, gar seines Verlusts. Die Kehrseite: das bis dahin Erreichte konnte zerstört werden, Überarbeitungsprozesse fatale Nebenwirkungen auslösen.

Wahrheiten stellen sich im Spiegel skulpturaler Details unter Beweis. Sie benötigen den Schlagabtausch.

Aktives Zuhören fördert den Dialog. Es bringt den Impuls zur Verständigung nicht allein durch ein offenes Ohr hervor, sondern durch ein zuneigendes Herz, das bewusst trennen kann zwischen Aktion und Reaktion.

Wir leben in einem anhaltenden Nachtragshaushalt. Die Lasten, die uns nachgetragen werden, beginnen uns zu erdrücken.