May 2020

Ich bin all das, was ich nicht bin, nur unter der Voraussetzung, dass ich all das, was ich nicht bin, nicht bin.

Was ich erkenne, hält mich im Leben. Meine Erkenntnis ist dem Leben beigesellt wie dem Brot das Salz.

Suche das Weite vor dir und du wirst dir näher sein als je.

Was du nicht haben kannst, ist greifbarer, als was du besitzt.

Eine Handlung, die man sich vorgenommen hat, aber nicht in die Tat umsetzt, schwächt.

Man kann ein Gesicht richtig malen, genau richtig, ohne es anatomisch richtig zu malen.

Hartnäckig arbeitet er daran, sein Leben zur Verschlusssache zu machen. Nicht weiter verwunderlich, dass es Öffnungsklauseln nur für Wenige gibt, die darüberhinaus eine Akteneinsicht verweigern.

Wer von Lebensnotwendigkeiten spricht, kann Sterbenotwendigkeiten nicht verneinen.

Die wenigen erfüllten Tage seines Lebens sind nicht in der Lage, die Leere aufzuwiegen, die sich wie aus dem Nichts immer wieder um ihn legt. Zu viele Tage, an denen sich kein Licht den Blüten nähert und so manche Pflanze ihre Haltung verliert. Sie haben genug Gewicht, um nachhaltig seinem Lebensvakuum Gramm um Gramm zuzumessen.

Ein gedeihliches Miteinander zieht nach sich, über Vulgäres gelassen hinwegzusehen.

Populismus als die nach Außen (gewendete) sich richtende Benachteiligungswut. Man redet weniger dem Volk nach dem Maul, als dass man ihm sein eigenes maulvoll Unbehagen, als angeblich leidvolle Ungerechtigkeit (wissentlich oder unwissentlich) fehlinterpretiert, effektvoll ums Maul schmiert.

Die Stimme des Volkes beeinträchtigt immer das Gehör, meint Teiresias. Erst wird man schwerhörig, dann verrückt. Das ist wie mit den Sirenen, deren süßlichem Geheul sich Odysseus dadurch entzog, dass er seine Ohren verschloss.

Die digitale Zeit gibt so Manchem eine Stimme, die ihm nicht zukommt.

Vollkommen überzeugt zu sein von der Bedeutung und Richtigkeit eigener Ansichten, ist der erste Schritt in den Irrtum. Man verläuft sich in der eigenen Meinung.

Ich erwähnte bereits, dass Teiresias kein ausgeprägter Feinschmecker ist. Nur bei Schafskäse und Oliven ist sein Geschmacksempfinden unschlagbar. Da macht ihm so leicht keiner etwas vor. Als ich zum ersten Mal Erzeugnisse seiner Heimat vom hiesigen Markt mitbrachte, stand er sofort neben mir und warf einen fachmännischen Blick auf die Ware. Natürlich ließ ich ihn probieren. ”Nicht schlecht”, meinte er und spuckte effektvoll einen Olivenkern aus, ”aber da ist noch Luft nach oben”. Seitdem muss ich ihn immer mitnehmen zum Markteinkauf, was mir nicht nur wegen seiner ungewöhnlichen Kopfbedeckung etwas peinlich ist. Ich weiß nicht, wie viele unterschiedliche Sorten Oliven er (zum Leidwesen des Händlers) schon probiert hat, würzige und milde, grüne, rötliche, schwarze, große und kleine, und unzählige Varianten dazwischen, nicht zu vergessen die zahllosen Schafskäse, aber nichts von alldem konnte ihn zufriedenstellen. Schließlich haben wir uns - auch aus Rücksicht auf die arg beanspruchte Kundenfreundlichkeit des Händlers - auf große, dunkle (natürlich ungefärbte) Oliven geeinigt und einen harzwürzigen Schafskäse dazu, der nicht allzu ausgeprägt nach Schaf schmeckt. Nicht unbedingt günstige Produkte, aber immer in gleichbleibender Qualität. Der Marktverkäufer hält sie exklusiv für uns parat, was ihm nicht schwer fällt, da sie, des Preises wegen, niemand anders kauft. Das Brot übrigens, das ich zu unseren antiken Mahlzeiten reiche, mundet Teiresias ausgezeichnet (ob er weiß, dass ich es selber backe?).

Der Skeptiker gibt dem Menschenfreund Anlass, seine Menschenfreundlichkeit unter Beweis zu stellen.

Schönheit als proportionale Erscheinung, die sich zwischen Innen und Außen abspielt.

”Man kann auch so sagen”, meint Teiresias, ”besser nichts tun als das Falsche. Das bringt die ganze, schwer zu verstehende Misere des Menschseins auf den Punkt”.

Das Einzige, was dem menschlichen Dasein zu einer gewissen Stabilität verhilft, ist Pragmatismus.

Das Alter von Teiresias zu bestimmen, fällt mir schwer. Ich meine sein Erscheinungsbild, wie ich es momentan erlebe, hier und jetzt in meinem Atelier, fernab seiner historischen Wurzeln. Auf den ersten Blick ein alter Mann, sage ich mir, hager, fast knorrig. Dem steht entgegen, dass ich selten Falten erkenne in seinem Gesicht. Seine Bewegungen können durchaus flüssig sein. Dann wieder habe ich den Eindruck, jeder Schritt bereite ihm Mühe, wie es bei alten Leuten der Fall ist, wenn ihnen der Körper zu schaffen macht. Natürlich spielt Kleidung eine große Rolle. Da ist Teiresias nichts vorzuwerfen. Er achtet vorbildlich auf sein Outfit. Egal, was er trägt, er macht immer eine gute Figur. Nur sein orientalisch anmutender Kopfputz, von dem er sich nie trennt, wirkt etwas irritierend. An dieser merkwürdigen Kopfbedeckung liegt es auch, dass ich seine Haarfarbe nicht kenne, geschweige denn weiß, ob er überhaupt (noch) Haare auf dem Kopf hat. Manchmal trägt er einen mittellangen grau melierten Bart nach Art antiker Philosophen, aber auch das nicht immer. Es kann durchaus vorkommen, dass er glatt rasiert vor mir steht. Er sieht dann viel jünger aus. Seine Augen faszinieren mich ungemein. Sie scheinen ständig in Bewegung zu sein, als ob sich anhaltend Interessantes, Erkennenswertes in ihnen spiegelte. Dabei oszilliert ihr Ausdruck melodisch zwischen strahlend-junger Tatkraft und tief nach Innen gekehrter Altersweisheit. Ich habe bislang selten einem Mensch so gern in die Augen gesehen wie ihm und noch nie mich so geborgen gefühlt wie in seinem Blick. Die Augen eines Vaters, eines idealen.

Von Mitleid hält er nicht viel. Mitleid habe noch keinem genützt, den Leidtragenden nicht und den Mitleidenden auch nicht. Jeder ist seines Glückes Schmied, wie es so trefflich heißt, und soll gefälligst selbst schauen, wie er im Leben zurecht kommt. Dass er ein dogmatischer Verfechter absolut liberaler Gesellschaftsstrukturen ist, verwundert nicht.

Teiresias lehnt Liberalismus ab, insbesondere den Neoliberalismus heutiger Prägung. Das hätte es alles schon einmal gegeben, sagt er, und immer mit negativen, teils erschreckenden Auswirkungen auf die Menschheit. Seit circa 2000 Jahren dürfte es eine derart abstruse Weltanschauung wie den Liberalismus nicht mehr geben. Er plädiere ganz entschieden für die Renaissance des ursprünglichen Lieberalismus teiresischer Prägung, wenn man denn an nachhaltige politische Veränderungen glaube.

Nur wer sich raushält, kann objektiv sein.

”Du kannst mehr erreichen, wenn du weniger willst”, entdecke ich auf einem Zettel, der neben einem Bild klebt, an dem ich mir gerade die Zähne ausbeiße, und der sicher von Teiresias stammt.

Kein Mensch kommt böse auf die Welt, also auch nicht gut. Beides ist zum Zeitpunkt des Auf-die-Welt-Kommens nicht zu erkennen, weder das Böse, noch das Gute. Bleibt also nichts als eine aus menschlicher Sicht vollkommen nachvollziehbare Hypothese?

Selbst die Vernunft ist mit Partikeln intuitiven Erkennens durchsetzt. Allerdings will sie das ungern wahrhaben und noch weniger zugeben.

Wer sähe nicht den Grat neben sich, die Dunkelheit anbei, abgrundtief? Ein falscher Schritt und man stürzt ab. Auch wer eine Hand reichen will zur Rettung, spürt instinktiv, dass er, reicht er sie hin, mit hinabstürzen kann.

Nur mit dem Tod muss man sich abfinden, definitiv.

Heute morgen, kurz bevor ich mich meiner Malarbeit zuwenden wollte, klopfte mir Teiresias auf die Schulter: ”Du musst so werden wie du bist, und du solltest so sein, wie du werden könntest.” Dann drehte er sich mit einem Augenzwinkern um und ging in den Garten.

Künstlerische Arbeit bedarf auch der Alltagsroutine.

Teiresias ist der Ansicht, dass wir heutzutage viel zu viel arbeiten. Nicht einmal die Sklaven zu seiner Zeit hätten so viel arbeiten müssen. Er selbst habe nie mehr als eine Stunde geweissagt. Die übrige Zeit des Tages sei der Welt- und Selbstbetrachtung vorbehalten geblieben. Und natürlich Speis und Trank im rechten Verhältnis, nicht zu viel und nicht zu wenig, und immer von guter Qualität. Klar, fügt er noch hinzu, seine Position sei hoch dotiert gewesen, die Leute, oft von weither kommend, hätten sich seine Weissagungen etwas kosten lassen, da habe er sich das leisten können. Aber - und er lächelt verschmitzt - , das wäre ja nicht immer so gewesen. Er kann nicht behaupten, allen Ernstes nicht, dass er als vergleichsweise mittelloser Schaf- und Ziegenhirte weniger glücklich gewesen wäre, als zur Zeit seiner in aller Welt gerühmten Orakel. Völlig mittellos zu sein, sei nicht erstrebenswert, über viele Mittel zu verfügen, auch nicht.

Selbstverständlich will der Künstler während des Herstellungsprozesses eines Kunstwerks auch etwas erreichen. Er weiß nur nicht in jedem Fall und jedem Detail und zu jeder Zeit, worum es sich dabei handeln könnte. Ehrlicherweise müsste er zugeben, dass er ein wenig ins Blaue hinein arbeitet (was sich die übrige Berufswelt so nicht leisten kann), neben der notwendigen handwerklichen Geduld, die auch dazu gehört. Teiresias sagt übrigens, für einfache Lösungen bräuchte es einen einfachen Blick, was bekanntermaßen schwer wäre und darum selten.

Verzicht ist gekoppelt an Besitz, oder zumindest an die Aussicht auf ihn.

Durch Verzicht gewinnst du Freiheit, durch Besitz auch. Es gilt abzuwägen.

„Im Grunde genommen lohnt es nicht der Mühe“, höre ich Teiresias sagen, als er von draußen hereinkommt und sich die Zeitung vom Tisch nimmt. Und dann: „Das wird zu wenig bedacht, dass vieles nicht der Mühe lohnt. Die Welt sähe anders aus, würde der Mensch sich die Frage, ob es der Mühe wert ist, was er da gerade tut, öfter stellen. Wie schön doch das Leben sein könnte, wenn er sich des ein oder anderen enthalten könnte“. Und mit einem Seufzer (von dem ich nicht genau sagen kann, ob er seinem vorgerückten Alter oder dem Thema geschuldet ist) setzt er sich in seine Bildecke und schlägt die Zeitung auf.

Die gedankliche Verarbeitung dessen, was mich umgibt, fußt auf Sinneseindrücken. Richtet sie sich auf mein Innenleben, begegnet sie sich selbst, in sich begründet, unmittelbar und unvermittelt.

In manchen seiner Träume tauchte die Mutter auf, immer wieder. Ein zwiespältiges Erleben, vibrierend zwischen Sehnsucht nach (oder auch Verpflichtung zu) unmittelbarer Nähe und dem Erschrecken angesichts unüberbrückbarer, gefühlskalter Distanz. Er wusste in diesen Träumen immer, dass er sie eigentlich in seine Arme nehmen müsste, aber er schaffte es nie. Auch wendete sie ihm oft den Rücken zu. Wie hätte er sie da umarmen können. Den Mut sie umzudrehen (und Mutes hätte es bedurft, das spürte er überdeutlich), brachte er nicht auf. Irgendetwas hielt ihn davon ab in den Träumen (wie später im realen Leben auch), vielleicht wohlweislich.

Du hast Vater und Mutter zweimal, in doppelter Ausführung sozusagen, meint Teiresias, einmal die ideale Vater- und Mutterfigur, wenn du so willst die archetypische, und dann die realen Eltern, die du erlebt hast an Leib und Seele. Es ist von Vorteil, das ideale Elternpaar nicht mit dem realen zu verwechseln, und den Blick des Kindes darauf nicht mit dem des Erwachsenen.

Was mich lange Zeit in meiner kunstprozessualen Vergangenheit beeinträchtigt hat, ist die Überfrachtung der Kunsttätigkeit mit ideell-dogmatischen Ansprüchen. Immer musste Bedeutung schon da sein, bevor eine künstlerische Geste überhaupt etwas Bedeutungsvolles zum Ausdruck gebracht hatte. In gewissem Sinne, obwohl sicher nicht beabsichtigt, war Werk (und Wirkung) noch vor dem Gewirktsein ausgemachte Sache, oft auf hohem geistigem Niveau.

Teiresias ist der Meinung, dass ein wesentlicher (wenn nicht sogar der wesentliche) Teil des Menschen fernab der Geschichte lebt. Warum das der Geschichte nicht zugute kommt, kann er sich auch nicht erklären, oder zumindest nicht ganz. Wahrscheinlich sind die Menschen zu sehr verliebt in ihre eigene Geschichte. Ohne Geschichte will ja keiner sein, zumal heutzutage. Sie tun ja alles technisch Mögliche, um im Gedächtnis zu bleiben, selbst unter der Gefahr des Gedächtnisverlusts, höre ich ihn noch brummeln.

Ich bewege mich im Gitternetz eigenen Erkenntnisvermögens. Was ich zwischendurch sehe, ist nichts, also unsichtbar, sollte es etwas sein.

Die Verstorbenen sind doch nicht irgendwo in der Hölle oder im Himmel, wie ihr das nennt, höre ich seine Stimme hinter mir. Die Toten sind mitten unter euch. Und das ist beileibe schlimmer als die Hölle, das kann ich dir sagen. Dabei spüre ich seine traurigen Augen von hinten unerbittlich auf mir ruhen. Wenn du stirbst, wechselst du die Seiten, nicht mehr und nicht weniger.

Wer malt, ist kritisierbar, wer schreibt auch, überhaupt, wer sich äussert und handelt.

Na ja, sagte Teiresias, als wir neulich mal wieder zusammen auf der Terrasse saßen und uns einen Roten schmecken ließen (er hat mittlerweile Gefallen gefunden an der Praxis des Dämmerschoppens). Na ja, sagte er also und strich sich etwas zögerlich mit seiner kräftigen Hand übers Gesicht, das mit dem Müßiggang der Götter wurde mir halt zum Verhängnis, ausgerechnet mir, Teiresias, einem unscheinbaren Hirten von Schafen und Ziegen, und im Grunde genommen nur, um einen lächerlichen Ehezwist zu schlichten. Zeus und Hera müssen sich, wie ich mir nachträglich zusammenreimte, sehr gelangweilt haben da oben im Olymp, bevor sie in Streit gerieten. Sie müssen sehr gelitten haben unter dem endlosen Müßiggang. Und um sich den ein wenig zu verkürzen, schauten sie wahrscheinlich sehnsüchtig auf die Erde herab, ob da nicht ein Zeitvertreib zu finden wäre (wie das übrigens alle Götter zur damaligen Zeit taten und vielleicht auch heute noch tun). Du wirst es schon erraten haben, ihr Blick fiel auf mich, der ich gerade tief entspannt unter meinem Olivenbaum lag und begehrlich - das muss ich zu meiner Schande gestehen - von der Tochter unseres Nachbarn träumte. Aber wie es halt so geht mit den Begehrlichkeiten, die Realität holt einen schnell ein und belehrt eines Besseren. Er führte sein Glas an die Lippen und nahm einen kräftigen Schluck, wie um sich Mut anzutrinken. Ich rührte mich nicht, gespannt auf die Fortsetzung seiner Geschichte. Da waren plötzlich zwei Schlangen neben mir und fielen paarungstoll übereinander her, fuhr er fort, große Exemplare, ziemlich große, furchterregende Exemplare. Du musst wissen, dass wir vor 3000 Jahren in Griechenland unter einer anhaltenden Schlangenplage zu leiden hatten (statistisch betrachtet kam auf jeden Einwohner mindestens eine Schlange). Ein Biss und das war’s. Deshalb lernten wir schon in der Grundschule: Begegnet dir eine Schlange, lass’ dir nichts schenken, vor allem kein Obst. Das richtete sich in erster Linie an die Mädchen. Für uns Jungs lautete das Motto: hau ab oder hau drauf. Ich entschied mich damals für Letzteres. Das war ein Fehler. Ich hatte meinen Schlag kaum geführt, da standen sie vor mir, wie von Geisterhand, Zeus und Hera, das göttliche, aber unglücklich verheiratete Herrscherpaar. Sie rieb sich den Kopf mit schmerzverzerrtem Gesicht und er herrschte mich an: du elender Erdenwurm, was erlaubst du dir, meine Gattin zu schlagen. Das ist einzig und allein mein Privileg! Und bevor ich noch eine Entschuldigung stammeln konnte, rief er mit seiner Donnerstimme: Zur Strafe sollst du sieben Jahre das Dasein eines Weibes erleiden! Sprach’s und machte mich zur Frau. Hier brach Teiresias ab, sichtlich mitgenommen von seinen traumatischen Erinnerungen. Er nahm noch einen Schluck Roten, stammelte etwas von Vergessen. Dann ließ er mich sitzen. Ich hätte gern noch mehr von ihm erfahren.

Keine Krise stellt sich aus heiterem Himmel ein. Die Frage, welche Probleme sich uns übermorgen stellen, beantworten wir teils blindlings bereits heute.

Ich lebe in angenehm natürlicher Umgebung, aber in einem - konzeptions-, material- und bautechnisch betrachtet - kühlen Haus, das viel Energie benötigt, um warm gehalten werden zu können. Von daher also lebe ich verschwenderisch, auch wenn ich dafür nichts kann, da ich zur Miete wohne.

Man ernährt nicht nur seinen Körper, auch Geist und Seele brauchen Nahrung (was in den Augen mancher überflüssig ist). Ästhetik spielt dabei eine große Rolle und der dankbare Blick auf diejenigen, die Nahrungsmittel, materielle wie spirituelle, erzeugen und zur Verfügung stellen.

Das Heilige ist die Reinheitsvorstellung eines Daseins, das ständig faulen Kompromissen unterliegt.

Eine sehr sympathische Eigenschaft von Teiresias: seine (scheinbare?) Unbedarftheit. Immerhin ein berühmter Mann mit bewegender, wenn auch weit zurückliegender Vergangenheit.

Seit einigen Tagen schon beunruhigte mich das frühlingshaft rasante Wachstum im Garten. Ich muss gestehen, dass ich der Gartenarbeit wenig abgewinnen kann, trotzdem mir bewusst ist, dass ein Garten, selbst ein wilder wie meiner, etwas Pflege benötigt (um die Sinne erfreuen zu können). Gestern dann beschloss ich also, einsichtig wie unwillig, mein Atelier zu verlassen und speziell dem Rasenwuchs vorübergehend Einhalt zu gebieten. Ich schloss gerade die Tür zum Gartenhaus auf, um das Mähgerät hervorzuholen, als mir Teiresias auf die Schulter tippte. Er würde gern Rasen mähen. Die frühnachmittägliche Schwere lähme ihn ein wenig. Da komme Gartentätigkeit an der frischen Luft wie gerufen. Außerdem sei er fasziniert von der Art und Weise moderner Gartenpflege, die, wie er mittlerweile herausgefunden hätte, mit allerlei klugen, technologischen Erfindungen aufzuwarten habe. Insbesondere der Rasenmäher gefalle ihm, so einer, wie ihn die Nachbarn verwenden. Er hätte sie mehrfach beim Rasenmähen beobachtet und sei seitdem versessen auf diesen ohrenbetäubenden Motorenlärm mit seinem sägend-nasalem Stottern, und nicht satt genug riechen könne er sich an den mitunter sichtbaren Abgaswolken, die einen während der Mäharbeit, vermischt mit dem Duft des Rasenschnitts, betäubend einhüllten. Zu seiner Zeit hätten sie die Wiesen ja mit vergleichsweise einfachen Mitteln kurz gehalten, vornehmlich mit Hilfe von Schafen und Ziegen. Ein so praktisches Hilfsmittel wie den Rasenmäher hätten sie nicht gekannt. Und während ich mich erleichtert, aber auch ein wenig skeptisch, wieder meinen Farben und Leinwänden widmete, machte sich Teiresias glücklich und erfahrungshungrig draußen mit meinem High-Tech-Rasenmäher zu schaffen. Er wollte gar nicht mehr aufhören und am Ende fragte er enthusiastisch, wann der Rasen denn das nächste Mal gemäht werden müsste. Er wäre dabei. Dass er in seinem Eifer manche Stellen so kurz geschoren hatte, dass von Rasen keine Rede mehr sein konnte, ignorierte ich großzügig (desgleichen einige wertvolle Gewächse, die ihm zum Opfer gefallen waren).

Solang dem Deutschen bewusst ist, dass sein übertriebener Hang zu Disziplin und Ordnung etwas Komisches an sich hat, könnte man ihn durchaus gern haben. Wehe aber, er vergisst ihn.

Aus der Nähe betrachtet erkennt man wie (welt) unerfahren er ist. Man könnte ihn geradezu als naiv bezeichnen auf Grund seiner fast kindlichen Vertrauensseligkeit, jedem dahergelaufenen Besserwisser alles zu glauben, was er von sich gibt. Natürlich freuen sich die Seelen- und Wissensspekulanten, wenn sie sich bei ihm erleichtern können. Andere allerdings, die mit bösen Absichten, spielen ihm übel mit. Das Dumme ist, dass er daraus nichts lernt.

Misstraue jedem, der vorgibt, du könntest seinem Ratschlag uneingeschränkt vertrauen.

Persönlichkeit ist der Grad an Individualität, den man nicht erwerben kann, sondern der einem (im Gefolge persönlicher wie überpersönlicher Erfahrungen) zukommt.

”Was jemand in seinen Worten verschweigt, ist mitunter aussagekräftiger, als das, was er in ihnen zum Ausdruck zu bringen scheint. Höre mehr auf das Unhörbare, in gewissem Sinne Inhaltslose, wenn du mehr erfahren willst über Person und Aussage. Darin liegt nebenbei das ganze Geheimnis meiner oft missverstandenen, gleichwohl immer richtig liegenden Weissagungen.” Originalton Teiresias, gestern Abend beim Dämmerschoppen und angesichts eines weitgehend akkurat gemähten Rasens.

Ein selbstgefälliges Leben ist dem gottgefälligen vorzuziehen, aus Gründen der Ehrlichkeit, sagt Teiresias. Ich würde allerdings niemand dazu raten, fügt er noch hinzu.

Was würde eine Einstellung für den alternden Mensch bedeuten, die nicht in erster Linie auf zunehmenden Verlust und mögliche Hinfälligkeit blickt? - Vielleicht ein erfülltes Leben.

Mit einem kaum merklichen, ein klein wenig gering schätzenden Lächeln fassen wir Realitätsauffassungen früherer, weit zurückliegender Zeiten unter dem Begriff Mythos zusammen und rücken sie damit in den Bereich märchenhafter Erscheinungsformen. Vielleicht werden zukünftige Erdenbewohner, in zwei- oder dreitausend Jahren, rückblickend dasselbe tun mit unseren gegenwärtigen Daseinsdeutungen.

Man wird sesshaft nicht auf Grund des Besitzes, um den man sich, hat man ihn einmal erworben, zu kümmern hat.

Sesshaftigkeit steht in Konflikt mit seinem inneren wie äußeren Veränderungsdrang. Da er aber nicht uneingeschränkt unterwegs sein kann, auch er wird langsam älter, muss er sich für seine letzte Lebenszeit etwas Bewegendes einfallen lassen.

Nur die halbe Wahrheit: ein Dasein jenseits von Raum und Zeit.

”Teiresias”, sage ich während einer Arbeitspause, ”kannst du mir verraten, wie ich das Künstlerische in den Griff bekommen kann?”
”Das geht nicht”, antwortet er mir, fast etwas ungehalten, so, als ob ich ihm eine ganz und gar überflüssige Frage gestellt hätte, ”das Künstlerische (und Kunst überhaupt) ist nicht in den Griff zu bekommen (auch rezeptiv nicht; man nimmt es wahr, aber man kriegt es nicht zu fassen), das Technische ja, das Künstlerische nicht, und manchmal sogar das Technische nicht, wenn es sehr eng mit dem Künstlerischen verbunden ist. Aber das weißt du doch. Oder?”
”Natürlich weiß ich das”, antworte ich, ”aber ich wollte mal hören, was du dazu sagen würdest.”

Programme vermitteln Inhalte, aber sie regen selten zum Innehalten an.

Er muss sich regelrecht überwinden ihr zu begegnen. Er hat eigentlich überhaupt keine Lust auf sie. Manchmal schreckt er sogar vor ihr zurück. Er hätte es nicht für möglich gehalten, damals, dass man sich ein Leben lang mit ihr abgeben kann. Doch nun kümmert er sich selbst schon seit vielen Jahren um sie, wobei sie ihn nach wie vor irritiert, zugleich auch fasziniert. Er muss sich eingestehen, dass er ihr verfallen ist. Deshalb sucht er das Weite, will ihr ausweichen so gut es geht. Aber er kommt einfach nicht los von ihr. Ein Leben ohne sie? Unvorstellbar.

Kunst führt in die Einsamkeit und an einen reich gedeckten Tisch, an dem man wissen muss, wie man sich zu benehmen hat.

Er steht unweigerlich auf der Seite der Minderheit, nicht unbedingt aus Überzeugung, sondern aus Prinzip. Die unterstützungswürdigste Minderheit in seinen Augen ist das nackte Individuum, zuallererst er selbst.

Minderheiten kennen keinen Irrtumsvorbehalt. Sie liegen richtig, allein aus minderem Grund.

Minderheitenschutz ist mindestens so wichtig wie Artenschutz. Wahrscheinlich ist Minderheit auch eine Art.

Man muss das mit den Wahrheiten links liegen lassen, meint Teiresias. Er habe sein ganzes langes Leben lang keine einzige Wahrheit kennengelernt, die er guten Gewissens hätte Wahrheit nennen können. Doch, unterbricht er seinen Gedanken, der eigentlich schon abgeschlossen schien, einmal: da habe ihn der Schuh gedrückt.

Ich handle aus verborgenem Antrieb und mein Trachten richtet sich auf etwas Geheimnisvolles.

Bildkünstler wäre die angemessene Berufsbezeichnung für mich, wie ich auch das Wort Tonkünstler gerne mag.

Das junge Eichhörnchen, aber nicht nur es: die pure Lust am Rauf und Runter, am Hin und Her.

Kunst deutet nicht, Kunst bedeutet.

Die Privatisierung basisgesellschaftlicher Belange ist nicht krisenfest, aber kostenträchtig (für wen ich immer).

Seine Urteile sind gefährlich. Er ist ein Meister der lancierten Falschmeldung charismatischen Zuschnitts. Man glaubt einfach nicht, dass falsch sein könnte, was er mit eloquenter Brillanz von sich gibt. Man zweifelt eher am eigenen Verstand, und ist umso bestürzter über den Täuschungsbefund, der so gar nicht im Bereich des Vorstellbaren liegt.

Urteilsvermögen bezeichnet die Fähigkeit, das Richtige vom Falschen zu trennen. Es basiert (bedauerlicherweise) nicht ausschließlich auf Fakten.

Man reichert das eigene Urteilsvermögen lebenslang an, auch (und vielleicht vor allem) auf Grund der Fehler, die einem unweigerlich unterlaufen.

Faktisch ist der Mensch eine unzureichende Bemessungsgrundlage.

Nebenbei bemerkt Teiresias, dass sie zu seiner Zeit noch ohne Statistik als Hilfsmittel zur Entscheidungsfindung hätten Entscheidungen treffen müssen und getroffen haben. Sie wären dabei im Mittel ungefähr genauso oft richtig oder falsch gelegen wie wir heute.

Kann Statistik etwas anderes wiedergeben als das, was sich in Zahlen (Mengen) ausdrücken lässt?

”Sich zufrieden zu geben ist der Anfang des Verlusts einer Fähigkeit”, sagt Teiresias und fügt schnell hinzu: ”Aber zugleich stellt Zufriedenheit eine seelische Komponente dar, die Ruhe schenkt.”

Bevor du andere verurteilst, frage dich, wie du selbst handeln würdest an ihrer Stelle. Andererseits zaudere nicht, dir ein eigenes Urteil zu bilden, wenn es notwendig ist ein Urteil zu fällen.

Manchmal sei eine Wahrheit das Gegenteil von dem, was sie behauptet zu sein, sagt Teiresias und fügt nachdenklich an, dass wir Menschen uns schwer täten damit, dies zu durchschauen, selbst dann, wenn unsere Intuition uns das nahelegte (was bekanntermaßen wenig beweiskräftig sei).

Wirklich unumstößliche Wahrheiten erfährt man am eigenen Leib.

Man lebt weder ganz im Einklang mit der Natur, noch in Gänze von ihr geschieden. Darin liegt die ganze Verantwortung.

Plastisch-skulpturale Prozesse in der Kunst werden leicht unterschätzt.

Güterabwägung: Lebensschutz kontra Demokratie (und umgekehrt).

”Da sich die Götter vor nichts fürchten müssen, was in der Natur ihres Daseins gründet, sind ihnen die Ängste der Menschen unbegreiflich”, höre ich Teiresias sagen, während ich mit einer Zeichnung beschäftigt bin. ”Deshalb ist es sinnlos, sich als Mensch mit seinen Sorgen an einen Gott zu wenden. Er wird nicht verstehen, worum es geht und sich gelangweilt abwenden, sofern er überhaupt zuhört. Der Mensch kann überhaupt nichts besseres tun, als sich um seine Sorgen selbst zu sorgen.”

Manchmal geht er mir etwas auf den Wecker mit seinen religiös-philosophischen Ergüssen, obwohl mir im Grunde genommen viel an Teiresias liegt. Und: meistens hat er recht.

Der größte Fortschritt liegt wohl in der Erkenntnis eigener Rückschrittlichkeit.

In zwischenmenschlicher Hinsicht (immer) sachlich zu bleiben, ist eine berechtigte wie schwer (und manchmal unmöglich) zu erfüllende Forderung.

Sich um den richtigen Betrachtungsabstand zu bemühen, wäre klug. Manche Probleme entstehen überhaupt erst, weil er zu gering oder zu groß oder gar nicht vorhanden ist.

Die Grundmaxime ethischen Handelns in sechs Worten zusammengefasst: ”Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”.

Wahrheitsliebe ist die Schwester des Zweifels (an Wahrheiten).

Das Wesentliche künstlerischen Ausdrucks liegt im Scheinbaren, das heißt: es könnte so, aber auch anders sein. Scheinbar offensichtlich ist nur die materielle Substanz, die dem Wesentlichen zum Ausdruck verhilft.

Und dann begebe ich mich mal wieder ins zeichnerische Gebiet. Gesichter entstehen, flott. Zufrieden aber bin ich mit ihnen nicht. Was sind sie schon Wert? Immerhin, ich suche nach Ausdruck, auf meine Weise (fernab von Können und doch gekonnt), und bin erst zufrieden, wenn er mich beeindruckt. Darin verbirgt sich wohl mein Wertmaßstab. Am Ende halten aus der Summe vieler Versuche (eines Arbeitstages) zwei Zeichnungen stand. Immerhin.

Ich habe keine besondere Vorliebe für nichts. Am liebsten wäre ich auch.

Mal wieder der Gedanke, dass mir Volkstümlichkeit suspekt ist.

Empirische Wissenschaft stellt (durchaus mit Erfolg) Bedingungen für Erkenntnis her, allerdings ohne die Erkenntnis nach ihrer Meinung zu fragen.

Jede kritische Auseinandersetzung wirft im Hintergrund die Frage auf, ob es sich lohnt, ihretwegen einen Streit vom Zaun zu brechen, umso mehr, wenn es sich um viele Kontrahenten handelt.

Für religiöse Ziele zu streiten, gar gewaltsam, scheint mir noch nicht einmal ein schlechter Witz zu sein.

Privilegien, die man nicht zu verantworten hat (die einem also ungefragt zukommen), sind eigentlich Verpflichtungen.

Teiresias ist der Ansicht, zu seiner Zeit ein privilegierter Mensch gewesen zu sein. Er habe sich allerdings nicht darum gerissen, und, das betont er ausdrücklich, sein bevorzugtes Leben hätte einen hohen Preis gehabt, so hoch, dass er - hätte man ihn vorher gefragt - gern darauf verzichtet hätte. Rückblickend wäre er lieber Schafhirte geblieben.

Ich bin ja der Meinung, dass ein Kunstwerk nicht nach Vollkommenheit streben sollte. Teiresias gibt mir da Recht. Er meint, das wäre wie beim Menschen. Ohne Makel sei er nicht zu ertragen. Und alle Bestrebungen, eine heile Welt zu kreieren, seien von vorn herein zum (manchmal verhängnisvollen) Scheitern verurteilt. Am besten, man mache sich nicht so viele Gedanken um die Welt und feile statt dessen am Kunstprofil der eigenen Persönlichkeit. Übrigens, setzt er mit einem kaum merklichen Lächeln hinzu: man tut gut daran, es nicht auszustellen.

Es gibt Menschen, die machen Kunst, und es gibt Menschen, die reden über Kunst. Auch wenn beide etwas miteinander zu tun haben, auf Grund des gemeinsamen Themas, unterscheiden sie sich doch hinsichtlich ihres Sachbezugs (wenn auch nicht immer).

Wer über nichts redet, bedarf vieler Worte.

„Solange ich lebte, war ich ohne Verdienst“, höre ich Teiresias murmeln.

Ohne Illusionen ist das Leben um einiges farbloser. Sich welche zu machen, ist nicht verwerflich, man sollte aber um sie wissen.

Eine hartnäckige Illusion ist seine Vermutung, dass äußerer Erfolg sein Selbstwertgefühl bereichern könnte. Nur Erfolg könnte ihn von dieser Illusion befreien, aber er weiß gar nicht, ob er das will.

Der Gang des Lebens gleicht dem Schälen einer umfangreichen Zwiebel. Hinter jeder Schale könnte sich etwas Neues zeigen (eine Kostbarkeit vielleicht), aber es kommt nur wieder eine neue Schale zum Vorschein. Bis man am Ende auf die innerste Schale trifft, die dann doch noch eine Neuigkeit enthält: Nichts.

Der Baum vor meinem Fenster hat wenig zu sagen, aber viel zu zeigen, soviel, dass ich mir nicht zutraue, ihn in ein Bild zu setzen.

Warum sollte jemand, der mittellos ist, mit seinen (materiellen) Ansprüchen haushalten? - Er sollte es nicht, aber es wird ihm nichts anderes übrig bleiben.

Wenn eine Kurve gradlinig verläuft, kann etwas nicht stimmen, sagt Teiresias.

Scheinbar gibt es soviel gute Tage in seinem Leben, dass die schlechten kaum ins Gewicht fallen. Aber glücklich macht ihn das nicht. Wahrscheinlich, vermutet er, hat Glück weder mit dem einen, noch mit dem anderen zu tun.

Das Humanum untersteht nicht ausschließlich logischen Gesichtspunkten. Trotzdem setzt der Mensch viel daran, es der Logik zu unterwerfen (zu seinem Nutzen wie zu seinem Schaden).

Wer in demokratischen Zusammenhängen Gleichheit verwirklichen will, wird nicht umhin kommen Gleichheit zu missachten.

Das Wunder einer langjährigen Ehe fällt nicht vom Himmel, sondern ist Resultat getrennter Schlafräumlichkeiten.