Jun 2020

Besser nicht darüber nachdenken, ob das, was man zu Papier bringt, ein Alleinstellungsmerkmal ist. Man setzt die Worte aufs Spiel.

Wer zu lieben vermag, kennt die Leere, die eine sich verflüchtigende Liebe hinterlässt.

Er ist sich selbst die größte Bedrängnis. Tagtäglich nimmt er es mit sich auf und erliegt sich selbst.

Als ich gestern an meine (längst verstorbene) Mutter dachte, war ich ihr dankbar dafür, dass sie mir zuzeiten gutes Benehmen beigebracht hat.

Das kompromisslos Tiefsinnige ist selten ein Verkaufsschlager.

Anwesenheit ist das Wesentliche in einem Kunstwerk. Ihm gilt meine ganzes Augenmerk.

”Die meisten Notwendigkeiten im eigenen Leben schafft der Mensch sich selbst”, sagt Teiresias und zieht genussvoll an der Pfeife, die er sich aus meinem Vorrat stibitzt hat, nebst wohlriechendem Tabak. ”Der Mensch strebt solange nach bestimmten Dingen und Handlungen (Verhaltensweisen), bis er gar nicht mehr anders kann, als sie als notwendig anzusehen. Etwas psychologisierend könnte man sagen”, fügt er noch hinzu: ”der Mensch konditioniert sich ins vermeintlich Notwendige hinein, was manche für den Sinn des Lebens halten”.

Jedes Kunstwerk bedarf einer kleinen Dosis Belanglosigkeit. Sein Ausdrucksgehalt kann dadurch nur gewinnen.

In Zukunft kümmere ich mich vor allem um die Vergangenheit.

Immer noch mit der Pfeife beschäftigt, meint Teiresias: ”Die Zukunft verheißt selten etwas Gutes. Aber blickt man zurück, war alles doch nicht gar so schlimm. Also macht es Sinn, die Zukunft nicht etwa durch die rosarote, sondern durch die Brille des Vergangenen zu betrachten. Was man da zu sehen bekommt, ist, wider Erwarten - und das ist tröstlich - recht wenig, im Grunde genommen nichts. Aber das behält man besser für sich”.

Wer die Vergangenheit aufdeckt, wickelt die Zukunft ab.

Auch beschleicht ihn zunehmend der fatale Eindruck, es mache keinen Sinn (mehr) Worte zu verlieren. Mit Fug und Recht, auf Grund ernüchternder Erfahrungen, die unzweifelhaft unter Beweis gestellt hätten, dass sowieso niemand mehr zuhöre, sei er zu der Überzeugung gelangt, dass das gesprochene Wort nicht länger von Bedeutung sei, geschweige denn irgendeiner Notwendigkeit folge; wohl gemerkt: das gesprochene Wort, das sich an andere richtet. Mit sich selbst sei er nach wie vor intensiv im Gespräch, laut und leise, innen wie außen. Ob ihn dabei irgendjemand belausche, sei ihm völlig einerlei.

Das Schlimme ist, dass wir banalen Menschen erlauben, auf ganz banale Weise Macht auszuüben, was leider selten nur lächerlich ist.

Wer seine Geschichte vergisst, macht es seiner Zukunft schwer.

Faustformel des Lebens: so viel wie nötig und so wenig wie möglich. Allerdings drängt sich dabei die Frage auf, heutzutage, wie wenig nötig ist und wie viel (noch) möglich.

Teiresias ist ja der Meinung, dass das Geschäftliche eine viel zu große Rolle spiele in heutigen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Er trenne dabei strikt zwischen geschäftlich und wirtschaftlich. Das Wirtschaftliche orientiere sich am Bedarf, erklärt er, das Geschäftliche am höchsten, auf Grund eines Bedarfs zu erzielenden Preises. Gegenüber seiner Zeit wäre die Gegenwart geschäftlich im Nachteil, da sie ihre (Arbeits) Sklaven mitunter sehr teuer bezahlen müsse. Das liege wohl am Bedarf.

Man ist immer Verhältnissen ausgesetzt, unverhältnismäßiger Weise, denkt er.

Nicht alles, was aussichtsreich erscheint, stellt ein lohnenswertes Ziel dar. Manches Idyll verbirgt sich unentdeckt vor der Haustür (wenn nicht sogar dahinter), mag sein aussichtslos, aber unbedingt einsichtsreich (und ab und an sogar einfallsreich).

Um ein Werk abschließend beurteilen zu können, bedarf es des Abstands. Dazu braucht es Zeit. Manchmal reicht eine Nacht.

Je länger Lebensverhältnisse dauern, desto mehr verlieren sie an Reiz, je reizvoller sie sind, desto kürzer ihre Dauer.

Ein routiniertes Leben hat Vorteile. Über Manches muss man sich nicht mehr den Kopf zerbrechen. Doch fallen nach und nach den allzu gewohnten Ereignissen diejenigen Impulse zum Opfer, die ein erfrischendes Leben zu stimulieren vermögen (Letzteres mag eine Illusion sein, gewiss, aber eine sehr reizvolle).

Teiresias sagt: wer sich nicht auf die Suche macht nach dem Ort, verpasst den Weg, und fügt schmunzelnd hinzu, dass man diesen Satz ohne weiteres umdrehen kann.

Gleichwohl hat Fortschritt nicht immer etwas mit Fortbewegung zu tun.

”Der tiefere Beweggrund dafür, dass du tust, was du tust, ist, dass du nicht tun musst, was du tust”, verrät mir Teiresias passgenau in dem Moment, als ich mal wieder vergeblich über die Beweggründe meines Handelns nachdenke.

Teiresias, der Gedankenlauscher! Aber gut, das war sein Job, damals in Theben. Nur hat er da die Götter belauscht (und die haben ihn mehr oder weniger gewähren lassen).

Schönheit ist ein Versprechen, dem Leben durch Poesie eingehaucht. Vielleicht ein Geschenk Gottes, vielleicht eine Fantasie des Menschen.

Neuerdings (oder wieder einmal) haben Menschen Angst vor Ansteckung. Das verführt (oder zwingt) zu ansteckendem Verhalten.

Immer schon hatte er Abstand gesucht zu seinen Mitmenschen. Distanz war ihm wichtig. Manche nahmen ihm das übel. Dann kam die Zeit, als er entfernt bleiben durfte, ganz offiziell, ja, er musste sich sogar fern halten. Das gebot nicht allein der Anstand, man hatte ihn verpflichtet, ganz von Oben herab, und nicht nur ihn. Seitdem beschäftigte ihn nichts anderes mehr, als der unstillbare Wunsch, Nähe herzustellen, verbotenerweise.

Wertschätzung ist zunächst an keinerlei Bedingungen oder Voraussetzungen geknüpft, also allgemeiner Natur. Sie beginnt allerdings in dem Maß an Universalität einzubüßen, wie sie sich mit Befunden konfrontiert sieht, die sie nicht oder nur bedingt wertschätzen kann.

Was du äusserst, sagt Teiresias, egal ob mündlich oder per Schrift, kann immer falsch aufgefasst werden und dir zum Nachteil gereichen. Du kannst keinen Satz bilden, und willst es wahrscheinlich auch nicht, der ähnlich hieb- und stichfest ist wie ein mathematisches Axiom. Sprache fluktuiert, das macht sie fehlbar. Wer dem entgehen will, muss sich in Schweigen hüllen.

Sprache trennt und Sprache verbindet. Beides hat seine Berechtigung.

Dein Erkenntnisvermögen ist weniger eine Sache äußerlichen Verstehens als innerer Übereinstimmung (woher?) mit einem zu Verstehenden.

Ob ich präfiguriert bin, entzieht sich meiner Kenntnis, wenn auch nicht meiner Vermutung. Dass ich figurativ gebildet bin und in der Lage Figuren zu erfinden (einschließlich meiner selbst), dessen bin ich mir bewusst.

Existiert eine bescheidenere Schreibgeste als der Aphorismus?

Teiresias kann mit Singsang wenig anfangen. Das wäre ihm schon zu seiner Zeit so gegangen, gibt er zu. Die großen kultischen Veranstaltungen mit ihrem ohrenbetäubenden Tamtam hätte er immer verschlafen (mit Wachs in den Ohren), obwohl er als Lehrstuhlinhaber des Apollonheiligtums zur Teilnahme verpflichtet gewesen wäre. Die Opern der Neuzeit, vor allem die italienischen, seien ihm ein Greuel, langatmig und gefühlig überdreht. Und Wagner setze noch eine Schippe drauf, sehr zum Leidwesen der Gesäßmuskulatur. Seine Musik sei wie ein Gefühlsblasebalg, von dem er lieber nicht angepustet werden will.

Oft ist es nur ein Wort, das eine Idee aus ihrem Schlupfwinkel lockt.

Man findet sich an anderem Ort wieder, ist man dem Meer des Vergessens anheim gefallen. Erinnerungsfrei ist man der Gleiche anders.

Vieles von dem, was ich zu leisten in der Lage bin, verdanke ich Kolleginnen und Kollegen (im Geiste).

Teiresias freut sich über den ergiebigen Regen, der seit Tagen sanft das Land benässt. Da könne er besser nachdenken, meint er, und auch seinem kleinen Gartenstück würde der Niederschlag gut tun.

Dafür, dass ich nichts zu sagen habe, verliere ich viele Worte.

Ein Kritiker schrieb einmal über ihn: er würde erkennbar ohne Vorbild zeichnen. Die Menschen seiner Portraits kämmen wie aus dem Nichts, als ob sie für kurze Zeit entflohen wären aus einer anderen, den Lebenden verborgenen Welt. Vielleicht eine große Familie Gewesener, die sich ein letztes Mal zum Abschied versammelt. Und außerordentlich scharfsichtig fügte er noch an, dass das an der fast zeitgleichen Verbindung von absichtsloser, strichführender Motorik und sich einstellendem Bilderkennen liege. Man könne kaum nachvollziehen, welche Bildkraft die kennzeichnenden Linienspuren aufs Papier fallen ließ, aber man spüre die unmittelbare Wirkung der Erscheinung. Bestürzt über diese fein beobachteten und in treffsichere Worte gefassten Beobachtungen, wollte er dem Kritiker danken, aber bevor er dazu kam, war dieser verstorben.

Teiresias ist der Ansicht, dass man sich über Ziele nicht den Kopf zerbrechen sollte. Man wäre eh immer auf dem Weg, egal, welches vermeintliche Ziel man gerade erreicht zu haben meine. Das Geheimnis seines eigenen Erfolgs, über den man gewiss trefflich streiten könne, läge vor allem darin, dass er sich nie etwas vorgenommen hätte.

Wenn überhaupt, ist nur der unbekannte Gott ein vertrauenswürdiger. Wie könnte ein Gott, der sich zeigt, glaubwürdig sein?

Das Individuelle als Verbindendes in sehr persönlicher Ausprägung (auf verbindliche Art und Weise).

Gerade gelingt mir eine stimmige Strichpassage, die ein weiteres, mir völlig unbekanntes Gesicht hervorzaubert, als Teiresias sagt, dass die Spiritualität des Universums in direktem Kontakt stünde zur Einbildungskraft des Menschen.

Was liegt gerade an, frage ich mich, und lasse allen Antrieb fahren.

Unmittelbar Verantwortung zu übernehmen für das eigene Tun, könnte eine Lösung sein für die Misere von Mensch und Welt. Aber vermutlich - da der Mensch ein irrender ist - hat auch diese Lösung Schwächen.

Eindrücklich bedrückend der Eindruck, mich zu wiederholen in Wort und Bild, und was weiß ich. Schwer zu sagen, ob Daseinsmüdigkeit der Erkenntnis des Selbstplagiats folgt oder vorausgeht.
”Solchen Zeiten kannst du dich nicht entziehen”, meint Teiresias, ”in einem gewissen Ausmaß gehören diese Selbstzweifel und Sinnlosigkeitsphasen zum Leben dazu, erst recht zu einem künstlerischen. Du musst dir das so vorstellen”, und er zwinkert mir schalkhaft zu, was meine selbstgrüblerische Stimmung gleich ein wenig hebt: ”Alles ist eine Sache der Verdauung, und du hast im Moment nichts anderes als Verdauungsbeschwerden (seelischer Art). Natürlich gibt es auch Unverdauliches, das du am besten gar nicht zu dir nehmen, oder von dem du dich, wenn du es bereits zu dir genommen hast, so schnell wie möglich wieder trennen solltest. Niemand sagt, dass du alles schlucken musst. Und ab und an zeigt auch Enthaltsamkeit eine gute Wirkung”.

Wie er sich im Kreis dreht und mit lächerlichem, völlig überzogenem Selbstgefühl die Brosamen seines spärlichen Denkens aufpickt und für große Entdeckungen hält.

Teiresias hinter der Zeitung (die Götter belauschend): Wofür sollte dem Mensch Freiheit gewährt werden, wenn er doch keinerlei Bindungen mehr unterliegt, und schon gar nicht an uns. Man wird den Umgang mit ihm ändern müssen und ihn, statt ihn der Freiheit zuzuführen, binden.

Wer vornehmlich dem Beginnen zugewandt ist, hat es schwer mit dem Fortschritt. Ihm ist, als ob der erste Schritt schon alles ist (und alles weitere aus nichts anderem besteht als ersten Schritten).

Teiresias zum Beispiel beginnt die Gartenarbeit zu entdecken. Das betrifft nicht nur das Mähen des Rasens. Klammheimlich nimmt er den Schlüssel zum Gartenhaus an sich, schnappt sich die Hacke, um ein kleines, randständiges und etwas vernachlässigtes Areal des Gartens vom Wildwuchs zu befreien. Damit nicht genug, sät er in die sorgfältig aufgelockerte Erde den verheißungsvollen Samen einer Blumenmischung (für karge Böden) ein, die er sich im Baumarkt besorgt hat. Er bedeckt die Körnchen vorsichtig mit etwas Komposterde und wässert sein kleines Gartenstück mit Hingabe, will sagen ausdauernd, das heißt: viel zu lang. Denn er bedient sich nicht der Regentonne, sondern der Wasserleitung und des Gartenschlauchs mit seinem Multifunktionskopf, dessen verschiedene Einstellungen (die niemand braucht) seine Neugier wecken. Das Nässen der Aussaat tritt dabei völlig in den Hintergrund. Nun steht er mindestens einmal am Tag versonnen vor seinem Blumenbeet und sieht den Blumen beim Wachsen zu. Es geht ihm viel zu langsam. Er könne es gar nicht erwarten, bis die ersten Blüten sich zeigen, verrät er mir.

Kreative Lösungen benötigen Zeit. Nichtsdestotrotz entscheidet nicht der Umfang an Zeit über ihre Qualität, sondern die Intensität des Entstehungsgeschehens in der Zeit.

Von besonderer, wenn nicht vielleicht entscheidender Bedeutung in Malerei und Zeichnung sind die Zwischenräume, nicht nur in der Betrachtung, sondern auch und gerade auf den Entstehungsprozess bezogen.

Kunst zielt auf Transzendenz, wird aus Transzendenz geboren und ist eine auf Transzendenz hin ausgerichtete Kommunikationsform (selbst dort, wo man dies nicht vermuten würde).

”Für Manche ist die Freiheit zu groß”, kommt es aus der Ecke, in der Teiresias sitzt und die Zeitung studiert. ”Das spricht nicht gegen die Freiheit, aber gegen manche“.

Im Grau des Tages sitze ich meine Zeit ab. Unmöglich, sie als erfüllt zu betrachten, was eine Anmaßung wäre und völlig unangemessen dem Befund offensichtlicher Leere. Ich müsste aufspringen und eintauchen in meine Arbeit, jetzt, sofort. Statt dessen bleibe ich sitzen und sehe der Zeit zu, wie sie vergeht und mit ihr alle Aussichten, und auch ich mit ihr, aussichtslos, was mir zugegebenermaßen ein wenig Sorge bereitet.

Weder ist der Weg das Ziel, noch das Ziel der Weg. Aber manchmal ist beides so innig miteinander verwoben, dass du es nicht mehr unterscheiden kannst. Dann bist du auf einem zielsicheren Weg.

Ohne Zwiegespräch keine Erkenntnis. Also sollten wir uns um ein angemessenes Gegenüber bemühen, am besten eines, das uns überangemessen ist.

”Man kann Zufriedenheit nicht wollen”, sagt Teiresias plötzlich zu mir und schaut mal wieder bis ins Innerste meiner Seele, ”man kann nur Dinge tun (und man tut gut daran sie zu tun), die einen mehr oder weniger zufrieden sein lassen”. ”Da hast du wohl recht”, gebe ich betroffen und etwas verstimmt über seinen Scharfblick zu. Teiresias ist Hellseher von Beruf. Das muss ich mir immer wieder vor Augen halten, vor allem, wenn ich in seiner Nähe bin (und wann bin ich das nicht?).

Wer vor der Freiheit flieht, läuft Gefahr, der Unterwerfung direkt in die Arme zu laufen.

Folgendes ist die subjektive Annahme des Autors, die auf keinerlei Objektivität Anspruch erhebt: Materie ist das an ihm selbst und in seiner Umgebung erlebte Stoffliche, das Geistige das in ihm selbst, in seiner Umgebung und zwischen ihm und seiner Umgebung erlebte Unstoffliche (wie Gefühle, Gedanken, Vorstellungen). Zwischen Geistigem und Materiellem herrscht nach seiner Auffassung eine sich gegenseitig bedingende wie ausschließende Verbindung.

Ein akausaler Befund stellt nicht das Gegenteil eines kausalen dar, sondern seine Erweiterung.

”Man erhebt sich nicht ungestraft über das Leben, aber man läßt Transzendenz auch nicht nur um des Lebens willen links liegen”, höre ich Teiresias brummeln, ”Leben ist Transzendenz wie Transzendenz Leben ist”.

Fakt ist, dass alles Verbundene, wird es getrennt, zum Schaden gereichen kann.

Das Widerständige ist der wahre Lehrmeister des Daseins.

Da hat Teiresias wohl recht, wenn er meint, dass alles den Alltag Übersteigende in besonderer Weise auf Alltag angewiesen ist.

Vor kurzem kam Teiresias wieder auf sein Leben zurück. Ich hatte im Garten gewerkelt und saß nach getaner Arbeit im lauen Abendwind auf der Terrasse mit einer Flasche Rotwein, als er sich zu mir setzte und um ein Glas bat. Eine Zeit lang saßen wir schweigend nebeneinander. Dann räusperte er sich verlegen und begann zu erzählen: ”Gut, ich hab’ mir damals redlich Mühe gegeben als Frau. Diese von Zeus auferlegte Weiblichkeit auf Zeit, immerhin sieben Jahre, brachte ich einigermaßen fruchtbar rum. Aber, ehrlich gesagt, ich war dann doch froh, als sie vorbei war. Irgendwie schon eine gute Erfahrung, gewiss, aber ich muss sie nicht noch einmal erleben. Soviel habe ich dann doch nicht übrig für Mutterschaft und Kinder.
Solltest du jetzt denken, damit wäre die Sache ausgestanden gewesen, täuscht du dich gewaltig. Eines Tages nämlich stand Hermes vor der Tür. Nein, nicht der Paketdienst, sondern der Götterbote, Überbringer göttlicher Weisungen an die Menschen, Begleiter der Verstorbenen in die Unterwelt und nebenbei auch noch Gott der Kaufleute, Reisenden und unbegreiflicherweise der Diebe. ”Folge mir, Teiresias!”, sprach er mit keinen Widerspruch duldender Stimme, ”Zeus und Hera wollen dich sprechen”. Also brachen wir auf zum nebelverhangenen Gipfel des Olymp, der Wohnstätte der Götter, 2900 Meter über dem Meeresspiegel. Hermes vor mir schwebend wie es einem Gott gebührt, ich keuchend hinterher. Da war vielleicht dicke Luft da oben. Er, Zeus, mit hochrotem Kopf, sie, Hera, mit verweinten Augen, und Zeus, als er meiner ansichtig wurde, rief mir herrisch zu: ”Da du, Teiresias, der einzige bist unter den Sterblichen, der die weibliche wie die männliche Seite des Lebens aus eigener Erfahrung kennt, schlichte unseren Streit und sage uns, wer über das tiefere Empfinden verfügt, der Mann oder die Frau?” Mir war sofort klar, dass mich meine Antwort, egal wie sie ausfallen würde, den Kopf kosten wird. Warum also nicht die Wahrheit sagen, zu der ich übrigens auch heute noch stehe: ”Die Frau verfügt über das tiefere Empfinden, oh Zeus, Herr und Gebieter über Himmel und Erde, das ganze Universum und auch über meine bescheidene Existenz”. Letzteres hätte ich mir allerdings sparen können, denn Zeus explodierte wie ein Feuerwerkskörper. Als er nach einiger Zeit ziemlich abgebrannt wieder zurückkam, war trotzdem noch genug Feuer in ihm, um mich verächtlich anzublitzen, was oft tödlich endete, mich allerdings ”nur” das Augenlicht kostete. ”Damit du in Zukunft klarer siehst, was Menschen frommt und vor allem den Göttern”, lauteten seine strafenden Worte. Und als ob mein Unglück nicht bereits groß genug gewesen wäre, verlieh mir Hera zum Ausgleich auch noch die Gabe der Weissagung, wahrscheinlich aus schlechtem Gewissen.
Und so stolperte ich, mit Blindheit geschlagen und zu Allwissenheit verdammt (sei so nett, sag’ es nicht weiter), den Olymp hinab. Von nun an standen die Leute Schlange vor meiner Tür und ich musste Wisthleblower sein, und was das bedeutet, ist dir sicher klar: man steht immer mit einem Bein im Gefängnis, wenn nicht sogar mit beiden Beinen unter dem Galgen. Und da wir Sterblichen alle ein schlechtes Karma haben - gut kann es ja nicht sein, sonst wären wir nicht hier auf der Erde - , musste ich lernen durch die Blume zu sprechen. Das ging mir sehr gegen den Strich. So manch’ einem hätte ich liebend gern die volle Wahrheit eingeschenkt. Da ich trotzdem immer irgendwie richtig lag mit meinen Vorhersagen, ob nun durch die Blume oder nicht, ließ der Erfolg nicht lange auf sich warten. Ich wurde unverzüglich zum Chefwahrsager von Theben bestellt, einer der angesagtesten Städte Griechenlands damals. Man schuf extra eine hoch dotierte Stelle für mich im weithin gerühmten Heiligtum des Apoll, dessen stattliche Überreste auch heute noch tourismusträchtig oberhalb der Stadt auf einem Felsen leuchten, sofern die Sonne scheint. Ich machte also Karriere, wie man heute sagen würde. Ein gut situiertes Leben ohne materielle Sorgen. Bis zu jenen Ereignissen, die ich kommen sah und, trotz meiner Sehergabe, nicht verhindern konnte. Aber das ist wieder eine andere Geschichte, sagte Teiresias mit etwas resignierter Stimme, erhob sich leise und zog sich in seine Bildecke zurück. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie spät es geworden war.

Was wir Geist nennen, ist Interpretation zugleich wie schmerzhaft bedrängender Seinsbefund.

Von seinem Leben hatte er solange keine Vorstellung, bis er sich vorstellte, dass das, von dem er meinte, keine Vorstellung zu besitzen, sein Leben war.

Nur weil jemand Augen und Ohren hat, ist er noch lang kein Fachmann fürs Ästhetische.

Damit (unzweifelhaft erstrebenswerte) Seelenruhe nicht in (unzweifelhaft nicht erstrebenswerte) Gleichgültigkeit übergeht, bedarf sie der Beunruhigung.

Wer bewusst leben will, muss lernen mit Misserfolgen zu leben.

Ein kahler Platz, berandet von öden Wohngebäuden. Vor einem der umstehenden Häuser (schwer zu sagen, was es beherbergt, vielleicht steht es auch leer), in einer Aussparung der Fassade, die wahrscheinlich einst ein Durchlass, ein Tor zum Innenhof war, ein Gestell auf vier Rädern. Vielleicht das Unterteil eines aus der Mode gekommenen Kinderwagens. Auch ein Gepäckwagen, wie sie auf Bahnhöfen ab und an noch zu sehen sind, wäre möglich. Darauf, nicht ohne Plan, vielfach Übereinandergetürmtes. Plastiktüten sind zu erkennen, der ein oder andere ramponierte Karton. Alles ist mit Gummis festgezurrt, wie man sie von Fahrrädern kennt und Einmachgläsern. Ganz obenauf gepackt, fast mannshoch schon, eine schmierige, zusammengerollte Matratze, aus der schmuddeliges Bettzeug lugt. Die Habe eines Obdachlosen, der Befund. Letztes Gut (weil mehr nicht mitzuführen ist auf so einem Gestell), verlassen, zurückgelassen, als ob der Eigentümer für immer weggegangen wäre. Sein letzter Wille?

Kunstwerke spiegeln, wenn auch nicht vollkommen, die Biografie ihres Schöpfers, darüber hinaus irgendwie auch die geschichtliche Situation zur Zeit ihrer Entstehung. Doch je weiter man zurückschaut, desto weniger gelingt es, diesen Zusammenhang herzustellen, obwohl er existiert. Mehr und mehr biografische und auch allgemein geschichtliche Details gehen verloren. Schöpfer und Schöpfertum verschwinden hinter ihrer Schöpfung. Bis man ganz an den Anfang gelangt, sich bei einem Schöpfergott wiederfindet, von dem man überhaupt nichts weiß, außer der (offensichtlichen) Annahme, dass es ihn geben müsste.

Einseitig lineares, rein kausales Denken als Grundlage wissenschaftlicher Welt- und Lebenserkenntnis stößt heute nicht nur an seine Grenzen, sondern mutiert im stolzen Besitz eigenen Wissens zu einer fast pathologischen Anschauungsweise, die Welt und Leben zu gefährden und zu zerstören beginnt. Was einstmals segensreiche Errungenschaft darstellte, verkehrt sich ins glatte Gegenteil.

Am meisten von der Kunst profitiert derjenige (Mensch), der sie macht. Außenstehende müssten ihr Rezeptionsgeschick schultern, indem sie sich auf künstlerische Pfade bequemen, um in ähnlicher, wiewohl nicht gleicher, Weise zu profitieren. Geld spielt dabei keine Rolle.

Mitmenschlich betrachtet geht es um intuitives Erfassen im Spiegel individuellen Handelns.

Wer sich nicht als völlig von seiner Umgebung losgelöstes Wesen versteht (ein Zustand, den man sich eigentlich kaum vorstellen kann oder will), hat Verantwortung. Menschen sind sich gegenseitig verantwortet, im Kleinen wie im Großen.

Als Urheber weiß ich, welche Ideen und Impulse in mein Werk eingeflossen sind und welche Prozessgeschichte sie hinter sich haben. Insofern liegt die Ideen-, bzw. Deutungshoheit bezüglich meines Werks bei mir. Außenstehende verfügen über eigene Wahrnehmungen im Rezeptionsgeschehen. Sie können zu meinen Erfahrungen kontrastieren, mit ihnen übereinstimmen oder allerlei dazwischen. Auch hier besteht so etwas wie Ideen- und/oder Deutungshoheit.

Ästhetisch betrachtet ist eine Wahrnehmung immer zugleich das, was in ihr zum Ausdruck kommt. Wahrnehmung und Wahrnehmungsinhalt sind nicht unmittelbar voneinander zu trennen. Wenn ich wahrnehme, habe ich zugleich auch etwas, das ich wahrnehme.

Nächtens war ich bei Christoph Martin Wieland zu Besuch. Er lebt im Nachbarort, auf seine alten Tage zurückgekehrt in sein Geburtshaus, das er für sich und seine Gattin liebevoll hergerichtet hat. Ein stattliches Gebäude, das wohl einmal Pfarrhaus war (so wie es aussieht), eines von der wohlhabenden Sorte. Innen alles gediegen, großzügige Räumlichkeiten mit altem, sehr gepflegtem Mobiliar, das dezent, aber mit kunstverständigem Auge den einzelnen Räumen und ihrer Bestimmung zugeordnet ist. Ich fragte mich sofort, wie das weitläufige Haus wohl warm zu halten wäre in der kalten Jahreszeit. Er tränke jeden Abend einen kräftigen Rotwein, klärte mich Christoph Martin Wieland auf. Ein einfacher Landwein aus dem Süden, der viel Sonne in sich trage. Darauf nahm er mich bei der Hand und führte mich in seine Bibliothek, wo ein behagliches Feuer im Kamin knisterte. Sanft drückte er mich in einen davor befindlichen Ohrensessel, schenkte mir ein Glas von seinem Roten ein und reichte es mir. Dann nahm er seinen ”Aristipp” zur Hand, setzte sich ebenfalls und las mir daraus vor.

Auch heute fällt der Regen sanft. Kaum zu erkennen seine Sanftmut im Grün. Wäre nicht das leise Plätschern in der Regentonne, ich wüßte nichts von ihm.

Teiresias wandelt nicht nur in meinem Garten. Er besucht auch die Gärten der Nachbarschaft (natürlich inkognito). Neulich kam er ziemlich verstimmt zurück: die Gärten seien unpflanzlich. Unpflanzlich wie unmenschlich. Und auf meinen fragenden Blick hin: zu viel Stein und Beton und Gerüst. Man würde merken, dass die Eigentümer zwar auf dem Land wohnen, aber nicht wirklich auf dem Land leben wollten. Überhaupt käme die natürliche Landschaftspflege zu kurz.

Ästhetik als grundlegende Erkenntnis permanenter Weltentstehung.

Die große Herausforderung künstlerischer Tätigkeit: frei werden, voraussetzungsfrei. Aber man wird sich nicht los, zum Glück einerseits, andererseits zum Pech.

Was der Mensch messen kann, ist nicht zugleich Maß aller Dinge, sagt Teiresias.

Nicht zu Rande komme ich mit der Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie. Wäre ich Paartherapeut, würde ich sagen: zerrüttete Beziehung, aber irgendwie kommt er, der Geist, nicht los von ihr, der Materie, und sie nicht von ihm.

Bezüglich Selbsterkenntnis der Gedanke, dass, nicht was ich erkennen will, sondern was zu erkennen wäre, von ausschlaggebender Bedeutung ist. Teiresias steigt sofort darauf ein: „Selbsterkenntnis wird vor allem dann besonders scharf, je mehr du von dir absehen kannst, ohne dich aus den Augen zu verlieren“. Und mit einem schuldbewusstem Lächeln - hat er doch mal wieder in meinen Gedanken gelesen - nimmt er sein Buch zur Hand. Wenn ich richtig sehe, Watzlawick’s ”Anleitung zum Unglücklichsein”.

Individualität ist etwas sehr Subjektives in sehr objektiver Ausrichtung.

Die Himmelsströmungen sind kalt. Verlässliche Winde, solche, die wärmen könnten, verlassen den Süden nicht mehr. Dort liegen sie reglos im Staub.

Materiell betrachtet, bin ich mein Körper und mein Körper bin ich. Gibt es noch andere (wissenschaftlich!?) belastbare Betrachtungsweisen?

Ausnahmen sind das Erholsame am Leben, laut Teiresias. Also sollte man, nach seiner Ansicht, ausnahmslos aus jedem Tag einen Ausnahmetag machen, will man einigermaßen entspannt leben. ”Na ja, vielleicht nicht aus jedem Tag”, korrigiert er sich, als ich ihn ob seines Widerspruchs fragend anschaue, ”aber jeden zweiten unbedingt, ausnahmsweise”. Ich bleibe skeptisch und denke: jemand, der sein Lebtag nichts anderes getan hat als eine Stunde am Tag zu weissagen, hat leicht reden. ”Wenn du dich da mal nicht täuschst”, kommt prompt seine Antwort.

Nichtstun ist übrigens keine Ausnahme, und schon gar keine erholsame, bemerkt Teiresias später. Das wird dir jeder Arbeitslose bestätigen können, wobei es zu meiner Zeit noch keine gab.

Guter Geschmack sucht den einfach gedeckten Tisch.

”Der Mensch irrt sich leicht”, höre ich Teiresias sagen, der mit übereinander geschlagenen Beinen lässig in meinem Lesesessel sitzt und Zeitung liest, ”vor allem dann, wenn er meint, ein Irrtum sei ausgeschlossen”.

Meine Arbeit bereitet mir Mühe. Ich bin alles andere als ein Experte in meinem Metier. Was mir gelingt, ist einzig und allein dazu angetan, meinen Dilettantismus zu dokumentieren.

Die anderen können immer mehr als ich. ”Das redest du dir ein, weil man es dir ausführlich und lange genug eingeredet hat in Elternhaus und Schule”, mischt sich Teiresias ein, der mal wieder in meinen Gedanken plündert. ”Ich kenne zum Beispiel niemand, der so erfolgreich erfolglos ist wie du”.

Zu Dingen, die mich nicht interessieren, brauche ich mich nicht zu äußern. Das ist sehr erleichternd, weil mich so gut wie nichts wirklich interessiert.

Frauen will er einzig und allein deshalb kennenlernen, um danach triumphierend sagen zu können, dass sie überhaupt nicht zu ihm passen.

Gutgläubigkeit. Beim Kind ist sie verständlich, im Erwachsenenalter wenig schmeichelhaft (selbst wenn sie manchmal charmant erscheint). Übertroffen wird sie von der Wissensferne sehenden Auges: man könnte wissen, aber man will nicht (warum auch immer).

Der Müßiggänger läuft Gefahr, sich über Gebühr mit sich selbst zu beschäftigen. Die gern zitierte Muße kann auch in eine Sackgasse führen, dann nämlich, wenn sie sich fern hält.

Mein Leben kommt mir leer und sinnlos vor (überhaupt in Frage gestellt), gewinne ich ihm nicht immer wieder etwas Neues ab, und sei die Entdeckung noch so klein.

Gute Bücher dienen nicht dem Zeitvertreib, sie decken die Beschränktheit des eigenen Horizonts auf.

Teiresias meint, vom guten Leben wüssten wir nichts. Das wäre auch nicht weiter verwunderlich, da es so etwas wie ein gutes Leben gar nicht gäbe. Nur Ansätze dazu, vergebliche Bemühungen, Versuche, es irgendwie festzusetzen im eigenen Dasein als ein höchstes Erstrebenswertes, ausbruchssicher und - bitte schön - immer zur Stelle. Doch würden all diese Versuche von ebendiesem Dasein zunichte gemacht. Es ist, als ob sich das Dasein zur Wehr setzte, ein gutes zu sein. Weit fehle auch der, der, ausgehend von der Schlechtigkeit des Lebens, auf ein gutes Leben schließe.

Später, während er sich draußen die Füße vertritt, höre ich Teiresias murmeln: ”Das gute Leben ist auf alle Fälle nichts Bestimmtes. Deshalb ist es auch so schwer zu bestimmen”.

Immer ist das Niedere die (manchmal schwer zu diagnostizierende) Begleiterscheinung des Höheren, sagt Teiresias (und sagen andere auch, sagt Teiresias).

Ich muss angefangen haben, bevor mich die Gestaltungslust packt. Der erste Schritt ist wesentlich, der erste Pinselstrich, der erste Satz.

Künstlernaturen bedürfen der Pflege, der Selbstpflege, wie der Pflege durch andere. Dass die Menschen ihrer unmittelbaren Umgebung ebenfalls Bedürfnisse haben (vielleicht sogar kreative), die gepflegt werden wollen, ordnen sie selbstverständlich ihrem eigenen Kreativbedürfnis unter.

Den Dingen gründlich auf den Grund zu gehen, führt manchmal dazu, dass man den Grund, ihnen auf den Grund gehen zu wollen, aus den Augen verliert.

Im Grunde genommen, verrät mir Teiresias, ist der Mensch, wenn er glücklich ist, grundlos glücklich. Glück ist ein Geschenk.

Übrigens, sagt Teiresias, ”nicht weil du dich von anderen auf Grund irgendwelcher Eigenschaften (und seien sie noch so hervorragend) unterscheidest, bist du ein Individuum”, und fügt an, ”um ein solches zu sein, bedarf es des Aufgehobenseins”.

Manchmal denke ich, dass Teiresias meine Gedanken lesen kann. Denn als ich neulich dachte, dass er doch ein wenig verrückt sei, ein geistreicher Spinner halt, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen: das hätten andere auch schon gedacht, sehr zu ihrem Leidwesen.