Nov 2020

Er stützte sich an der Hauswand ab. Ich sah ihn aus dem Zug heraus, wie er sich etwas schief und verdreht und gebückt an ihr anlehnte. Er wollte sich seiner Schuhe entledigen. Die waren ausgetreten, abgelaufen, schmutzig, Sommerstückwerk, das jetzt, Ende November, nicht mehr taugte. An ihre Stelle sollten warme Winterstiefel treten, die neben ihm bereit standen. Ob er bemerkte, dass ich ihn, während der Zug die Reisenden aufnahm, aus dem Abteil heraus beobachtete? Wenn ja, schien es ihm nichts auszumachen, so konzentriert war er mit seinem Schuhwechsel beschäftigt. Er gab ein komisches Bild ab (und mir wäre es in gleicher Situation wahrscheinlich nicht anders ergangen), wie er da stand auf einem Bein, mühsam um Gleichgewicht bemüht. Befremdlich schien mir dabei nicht, dass er seine bestrumpften Füße, bevor er sie in die neuen Schuhe zwängte, mit großer Sorgfalt reinigte. Befremdlich war das Mittel, dessen er sich bediente. Mit der Innenseite einer Bananenschale fuhr er seine sockigen Füße ab wie ein anderer es mit Waschlappen und Seife getan hätte. Ich dachte mir, vielleicht verfügt Banane über eine desodorierende Wirkung. Aber wirklich schlau wurde ich aus diesem Verhalten nicht. Auf dem Rücken trug der Mann einen stramm verpackten Schlafsack, an dem ein ebenso stramm gefüllter Stoffbeutel hing. Bevor er die alten Schlappen in einem Müllkorb versenkte, entnahm er ihnen noch die Schnürsenkel, legte sie zusammen und verstaute sie in seiner Hosentasche.

Je stärker die Bindung, desto größer die mögliche Verlustangst. Aber eine Existenz ohne Verbundenheit?

Während wir im Garten Ordnung schaffen, verrät mir Teiresias, dass man nichts in der Natur, sei es einmal entfernt, so ohne weiteres wiederherstellen könne. Gewachsenes sei generell schwer zu ersetzen. Es bedarf einer Menge Zeit und Geduld, Gewachsenes an die Stelle von ehemals Gewachsenem treten zu lassen. Aus diesem Grund sollte man gut überlegen, was man der Natur nimmt.

Kunst, die angenehm ist und sperrig in einem, banal und tiefsinnig zugleich!

Ich stelle mir vor, ich wäre Kunstsammler. Bilder erwerben wäre meine Passion. Ständig würde mich das unbändige Gefühl heimsuchen, irgendetwas Bildliches anschaffen zu müssen. Ich könnte gar nicht anders. An den Wänden im Haus wäre schon längst kein Platz mehr für all die Kunst. Im Souterrain verborgen Kunstschätze aller Art. Das Meiste lagerte auswärts in einem speziell für die Kunstaufbewahrung erstellten Gebäude. Aber ich kaufte weiter wie besessen Kunst. Niemand könnte mich zur Vernunft bringen. Den Überblick über meinen Kunstreichtum hätte ich längst verloren.

Biografisches Gewebe: Kette und Schuss, Kunst und Leben.

Vermutlich, weil er sich ein Leben lang mit Formfragen auseinandergesetzt hat, macht ihm die Aussicht auf sein eigenes Ableben zu schaffen. Sterben heißt für ihn Formverlust.

Man muss sich auf Kompromisse einlassen, um existieren zu können. Da ist es nur verständlich, wenn man versucht, aus jedem Kompromiss möglichst viel Gewinn zu ziehen, selbst wenn sich am Ende so etwas wie Gewinn als Trugschluss herausstellen sollte.

Könnte ein gewinnloses Leben als wohlgefälliges Leben gelten?

Manchmal kann es lebensrettend sein, laut Teiresias, einen höheren Ort einzunehmen, sich dort zu beheimaten, wo die Sonne scheint und das Nebelwerk unterhalb zum glitzern bringt.

Eine Formfrage ist nicht nur eine Frage möglicher Form, sondern formaler Bildung an sich.

Teiresias fügt dem gestern Gesagten noch an: ”In jedem Mensch schlummert ein kleiner Gott, aus dem, wenn er nicht geweckt wird, ein kleiner (manchmal sogar ein großer) Teufel werden kann.”

Meist entspringt das Böse aus der Nachlässigkeit des vermeintlich Guten, wie es überhaupt eine gewisse Affinität zur Nachlässigkeit besitzt.

Jede Freundschaft hat mindestens ein zweites Gesicht, das man durch zuneigende Freundlichkeit allein nicht zu Gesicht bekommt.

Immer wird aus Liebe irgendwann auch ein gewisses Maß an Verpflichtung. Aus Verpflichtung allein aber entspringt selten Liebe.

Die Medizin fasst heute so ziemlich alles ins wissenschaftliche Auge, was einer Untersuchung zugänglich ist, nur die Tatsache des Todes will sie nicht so recht wahrhaben.

”Schön, dass Sie da sind. Mit der Bahn kommen sie auch in schwierigen Zeiten sicher ans Ziel.” Und so weiter … Seit Monaten zu hören auf und in allen Bahnhöfen der Republik. Man könnte meinen, der ”Große Bruder” aus George Orwell’s Roman spräche zu einem. Subtiler Zwang im Sprechgewand unangenehmer Sanftheit.

Ernst nehmen hat er das Leben nie können. Dass andere Leben und Ernsthaftigkeit so ohne weiteres zusammenbrachten, blieb ihm lebenslang ein Rätsel. Er selbst hätte das Leben am liebsten verspielt, so wie man einen Tag verschläft. Das wäre ihm ernsthaft vorgekommen.

Sagt einer: mir kann nichts mehr passieren. Das Schlimmste ist mir schon passiert. Ich existiere.

Teiresias im Garten. Mit langsamen und behutsamen Bewegungen entfernt er das Herbstlaub von seinem Beet. Die Erde soll atmen können, sagt er, wenn die Erde genug Luft bekommt, fällt auch den Menschen das Atmen leichter.

Meine Mutter war für mich ungefähr so unerreichbar wie ich für sie. Diese Erkenntnis hat etwas Beziehungsrettendes. Wir sind quitt und das seit Jahren schon. Und auch seit Jahren schon fangen wir an, uns immer besser zu verstehen.

Der Taxifahrer, der mich gestern sicher und zeitgenau durch den Freiburger Hochverkehr zum Bahnhof chauffierte, seine sanft-melodische Sprechweise, die süd- oder osteuropäische Herkunft verriet. Etwa zwanzig Minuten sprachen wir miteinander. Das Taxi als Sprachkabine, er vorne hinterm Steuer, ich im Fond. Seine momentan prekäre Lebenssituation als Kontrabassist. Er hat in großen Orchestern musiziert, auch in Übersee. Auf Grund der einschränkenden Verordnungen ohne nennenswerte Engagements seit März. Seitdem Taxifahrer. Zusammen mit Erspartem hält er sich über Wasser. Ich hätte gern länger mit ihm gesprochen, aber mein Zug ...
Eigentlich eine Unmöglichkeit, obwohl durchaus möglich (wie gestern geschehen), sich im vergleichsweise kleinen Zeitfenster einer Taxifahrt intensiv zu begegnen.

Teiresias zu mir, als ich ihm von meinem gestrigen Taxierlebnis berichte: ”Stell’ dir vor, in jedem Mensch schlummert ein kleiner Gott.“

Das Leben steht immer auf dem Spiel. Man sollte sich deshalb nicht zu sehr mit der Überlegung beschäftigen, dass es auf dem Spiel stehen könnte.

Ich habe nun immer das leise Gefühl, dass die Reise, die ich jetzt gleich antreten werde, aus beruflichen Gründen, die letzte sein könnte. Bei der Rückkehr dann die ebenso leise Empfindung, noch einmal davon gekommen zu sein.

Über seine zentrale Profession hinaus ist es ihm lebenslang gelungen, sich mit allerlei fachfremden, zugegebenermaßen einfachen Berufstätigkeiten zu garnieren. Das hat ihm persönlich und seiner zentralen Profession nicht geschadet. Aber hat es ihm genutzt?

Wenn man unterschiedliche Blickwinkel aufs Leben kennenlernen und einnehmen darf und wenn einem immer wieder bislang unbekannte Perspektiven geschenkt werden (von denen man nie im Leben angenommen hätte, dass es sich um Perspektiven handeln könnte) ...

Langsam lerne ich die Gelingensmöglichkeit dessen kennen, was man landläufig Unvermögen nennt. Ich hätte nie gedacht, etwas könne gut werden, ohne dass ich es vermag.

Das ist verständlich und einfach zu erklären, meint Teiresias: du lernst etwas kennen, du lernst dieses etwas zu können, und dann vergisst du, dass du etwas gelernt hast zu können und hast den Eindruck, du könntest es nicht (mehr).

Auf einstweilige Verfügungen bauen. Gerichte werden umständehalber zum demokratischen Zünglein an der gesellschaftlichen Waage.

Teiresias ist in der Lage, einer Frau ein Kompliment zu machen - zum Beispiel dass sie schöne Augen hat - fern jeglicher Anzüglichkeit und sich lustvoll darüber zu freuen, dass sie sich freut.

Ich fahre immer noch ein wenig hinterher, wenn ich unterwegs war, mindestens bis in den darauffolgenden Tag hinein. Meine erinnernde Aufmerksamkeit hat Verspätung, aber sie entfällt mir nicht.

Im Bann der Situationen, Teil und Ganzes, und weit und breit kein Helfershelfer.

Experten überzeugen mehr, wenn sie nicht ausschließlich als Experten auftreten. So ist ein Expertenrat auch nicht nur an seiner fachlichen Expertise zu fassen, sondern an der sinnvollen Einbettung in Leben und Gesellschaft.

Martin Walser und die Geschichte seiner Antihelden, oder auch: Scheitern als (Über)Lebensprinzip.

Er war so gut wie nie für seine Kinder da. Von daher konnte er auch so gut wie kein pädagogisches Unheil anrichten.

Wenn man gesagt bekommt, dass man zur Risikogruppe zählt, was man seit langem weiß, als Mensch, spätestens seit man halbwegs klar denken kann, aber nun bekommt man es von Außenstehenden gesagt, ins Gesicht, und hat sich danach zu richten.

Der angesehene Produzent, dem es gelingt, seine Produkte immer so aussehen zu lassen, dass der höhere Preis gerechtfertigt erscheint. Im Nachhinein stellt sich das als Irrtum heraus. Die Artikel des Produzenten sind nicht besser als die der Konkurrenz. Aber das wird nie public. Niemand will zugeben, dass er dem Produzent auf den optischen Leim gegangen ist.

Ich habe nichts gegen Katastrophen. Auf meinem Zettel für Besorgungen stehen sie ganz obenan.

Irgendwann habe ich mir eingestehen müssen, dass meine Zeit langsam aber sicher abläuft, meint Teiresias beim Morgenkaffee. Also bin ich vorsichtig geworden mit Zeitvergeuden. ”Leiste dir nicht soviel Leerlauf, Teiresias”, sagte ich zu mir, ”nimm’ Rücksicht auf dein immer knapper werdendes Zeitbudget”.

Schutzengel fragen nicht, ob man sich selbst für schutzbedürftig hält. Sie gehen unbeeindruckt ihrem Schutzauftrag nach. Wenn man ihnen sagt, dass man es sehr nett findet, dass sie sich mit Hingabe um einen kümmern, man sie augenblicklich aber eigentlich nicht benötigt, schauen sie einen groß an und schütteln gelassen den Kopf.

In seiner Familie wurden Kinder als Unglück aufgefasst. Das war immer irgendwie spürbar, auch wenn man nicht offen drüber sprach. Beinahe hätte er sich diese Einstellung zu eigen gemacht. Zum Glück bekam er Kinder.