Unsere Hochkultur gleiche einem zu üppigen und noch dazu überwürzten Gericht, klassische Verfallserscheinung, meint Teiresias während meiner Mittagspause. Man könnte den Eindruck haben, so seine Worte, der Geschmackssinn sei abgestumpft, eine unspektakuläre Sinnesempfindung nicht mehr möglich. In Wirklichkeit aber streike der Geschmack nur, überfordert mit dem quantitativen wie qualitativen Überangebot. Dabei schaut er etwas sehnsüchtig auf mein Käsebrot, von dem ich ihm längst etwas angeboten hätte, wüsste ich nicht, dass er absolut nahrungsabstinent lebt. Man müsste halt Maß halten können, sagt er noch, aber irgendwie gehe das rechte Maß im Lauf der Zeit verloren, warum auch immer, und es brauche eine ganze Weile, bis es sich wieder einwiegte. Dabei fällt sein strenger Blick auf die Waage, die ich zum Abwiegen meiner Malsubstanzen im Regal stehen habe.

Wer frei sein will, muss wissen sich zu binden.

Müßiggang war noch nie etwas Anzügliches oder Verachtenswertes. Im Gegenteil stellt er insgeheim die Grundlage aller ernsthaften kulturellen Errungenschaften dar. Wer sich der Muße hingibt, macht das nicht aus Jux und Tollerei, auch nicht aus Faulheit, sondern er bereitet etwas vor, das später einmal im wahrsten Sinn des Wortes kulturelle Ansichtssache sein kann.

Nicht immer verlässt Teiresias seinen Platz links oben in besagtem Bild, das immer noch, mittlerweile unverkäuflich, in meinem Atelier steht. Manchmal auch ergreift er einfach nur das Wort, ziemlich unvermittelt, wobei ich immer ein wenig erschrecke, wenn er sich so unvorhergesehen an mich wendet. Er habe nie verstanden und verstehe es auch heute noch nicht, sagte er neulich zu mir, dass Menschen glauben, sie könnten sich das Wohlwollen der Götter durch Gebete und Opferhandlungen erzwingen. Er hätte während seiner beruflichen Laufbahn nie auch nur einen Gott kennengelernt, der in irgendeiner Weise Notiz von diesen menschlichen Zumutungen genommen hätte. Überhaupt hätten die Götter mit den Menschen so gut wie nichts am Hut, sie seien irgendwie gar nicht existent für sie. Auf meinen Einwand, dass es doch zahllose Überlieferungen gäbe, die den (mitunter auch sexuellen) Kontakt zwischen Göttern und Menschen belegen würden, antwortete er wegwerfend, dass es sich dabei zwar um oft sehr poetische, aber leider Gottes rein menschliche Erfindungen handelte, menschliche Sehnsüchte halt (denn wer träumte nicht von göttlicher Abkunft?), ganz gewiss aber nicht um Tatsachenberichte. Und du?, hakte ich nach. Wie war das denn bei dir? Du lebtest doch angeblich auch in enger Beziehung zur göttlichen Sphäre. Das stimmt zwar, antwortete er mir, ohne in Verlegenheit zu geraten, aber ich bin die Ausnahme von der Regel. Und, nebenbei, ich habe dieses Privileg mit dem Verlust meines Augenlichts teuer bezahlt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Berechtigt mag es sein und auch erhellend, die Handlungsweisen anderer zu durchleuchten. Weitreichender aber scheint es mir, eigenes Handeln zu diagnostizieren.