Schönheit als proportionale Erscheinung, die sich zwischen Innen und Außen abspielt.

”Man kann auch so sagen”, meint Teiresias, ”besser nichts tun als das Falsche. Das bringt die ganze, schwer zu verstehende Misere des Menschseins auf den Punkt”.

Das Einzige, was dem menschlichen Dasein zu einer gewissen Stabilität verhilft, ist Pragmatismus.

Das Alter von Teiresias zu bestimmen, fällt mir schwer. Ich meine sein Erscheinungsbild, wie ich es momentan erlebe, hier und jetzt in meinem Atelier, fernab seiner historischen Wurzeln. Auf den ersten Blick ein alter Mann, sage ich mir, hager, fast knorrig. Dem steht entgegen, dass ich selten Falten erkenne in seinem Gesicht. Seine Bewegungen können durchaus flüssig sein. Dann wieder habe ich den Eindruck, jeder Schritt bereite ihm Mühe, wie es bei alten Leuten der Fall ist, wenn ihnen der Körper zu schaffen macht. Natürlich spielt Kleidung eine große Rolle. Da ist Teiresias nichts vorzuwerfen. Er achtet vorbildlich auf sein Outfit. Egal, was er trägt, er macht immer eine gute Figur. Nur sein orientalisch anmutender Kopfputz, von dem er sich nie trennt, wirkt etwas irritierend. An dieser merkwürdigen Kopfbedeckung liegt es auch, dass ich seine Haarfarbe nicht kenne, geschweige denn weiß, ob er überhaupt (noch) Haare auf dem Kopf hat. Manchmal trägt er einen mittellangen grau melierten Bart nach Art antiker Philosophen, aber auch das nicht immer. Es kann durchaus vorkommen, dass er glatt rasiert vor mir steht. Er sieht dann viel jünger aus. Seine Augen faszinieren mich ungemein. Sie scheinen ständig in Bewegung zu sein, als ob sich anhaltend Interessantes, Erkennenswertes in ihnen spiegelte. Dabei oszilliert ihr Ausdruck melodisch zwischen strahlend-junger Tatkraft und tief nach Innen gekehrter Altersweisheit. Ich habe bislang selten einem Mensch so gern in die Augen gesehen wie ihm und noch nie mich so geborgen gefühlt wie in seinem Blick. Die Augen eines Vaters, eines idealen.

Von Mitleid hält er nicht viel. Mitleid habe noch keinem genützt, den Leidtragenden nicht und den Mitleidenden auch nicht. Jeder ist seines Glückes Schmied, wie es so trefflich heißt, und soll gefälligst selbst schauen, wie er im Leben zurecht kommt. Dass er ein dogmatischer Verfechter absolut liberaler Gesellschaftsstrukturen ist, verwundert nicht.

Teiresias lehnt Liberalismus ab, insbesondere den Neoliberalismus heutiger Prägung. Das hätte es alles schon einmal gegeben, sagt er, und immer mit negativen, teils erschreckenden Auswirkungen auf die Menschheit. Seit circa 2000 Jahren dürfte es eine derart abstruse Weltanschauung wie den Liberalismus nicht mehr geben. Er plädiere ganz entschieden für die Renaissance des ursprünglichen Lieberalismus teiresischer Prägung, wenn man denn an nachhaltige politische Veränderungen glaube.

Nur wer sich raushält, kann objektiv sein.

”Du kannst mehr erreichen, wenn du weniger willst”, entdecke ich auf einem Zettel, der neben einem Bild klebt, an dem ich mir gerade die Zähne ausbeiße, und der sicher von Teiresias stammt.

Kein Mensch kommt böse auf die Welt, also auch nicht gut. Beides ist zum Zeitpunkt des Auf-die-Welt-Kommens nicht zu erkennen, weder das Böse, noch das Gute. Bleibt also nichts als eine aus menschlicher Sicht vollkommen nachvollziehbare Hypothese?