Ästhetisch betrachtet ist eine Wahrnehmung immer zugleich das, was in ihr zum Ausdruck kommt. Wahrnehmung und Wahrnehmungsinhalt sind nicht unmittelbar voneinander zu trennen. Wenn ich wahrnehme, habe ich zugleich auch etwas, das ich wahrnehme.

Nächtens war ich bei Christoph Martin Wieland zu Besuch. Er lebt im Nachbarort, auf seine alten Tage zurückgekehrt in sein Geburtshaus, das er für sich und seine Gattin liebevoll hergerichtet hat. Ein stattliches Gebäude, das wohl einmal Pfarrhaus war (so wie es aussieht), eines von der wohlhabenden Sorte. Innen alles gediegen, großzügige Räumlichkeiten mit altem, sehr gepflegtem Mobiliar, das dezent, aber mit kunstverständigem Auge den einzelnen Räumen und ihrer Bestimmung zugeordnet ist. Ich fragte mich sofort, wie das weitläufige Haus wohl warm zu halten wäre in der kalten Jahreszeit. Er tränke jeden Abend einen kräftigen Rotwein, klärte mich Christoph Martin Wieland auf. Ein einfacher Landwein aus dem Süden, der viel Sonne in sich trage. Darauf nahm er mich bei der Hand und führte mich in seine Bibliothek, wo ein behagliches Feuer im Kamin knisterte. Sanft drückte er mich in einen davor befindlichen Ohrensessel, schenkte mir ein Glas von seinem Roten ein und reichte es mir. Dann nahm er seinen ”Aristipp” zur Hand, setzte sich ebenfalls und las mir daraus vor.

Auch heute fällt der Regen sanft. Kaum zu erkennen seine Sanftmut im Grün. Wäre nicht das leise Plätschern in der Regentonne, ich wüßte nichts von ihm.

Teiresias wandelt nicht nur in meinem Garten. Er besucht auch die Gärten der Nachbarschaft (natürlich inkognito). Neulich kam er ziemlich verstimmt zurück: die Gärten seien unpflanzlich. Unpflanzlich wie unmenschlich. Und auf meinen fragenden Blick hin: zu viel Stein und Beton und Gerüst. Man würde merken, dass die Eigentümer zwar auf dem Land wohnen, aber nicht wirklich auf dem Land leben wollten. Überhaupt käme die natürliche Landschaftspflege zu kurz.

Ästhetik als grundlegende Erkenntnis permanenter Weltentstehung.

Die große Herausforderung künstlerischer Tätigkeit: frei werden, voraussetzungsfrei. Aber man wird sich nicht los, zum Glück einerseits, andererseits zum Pech.

Was der Mensch messen kann, ist nicht zugleich Maß aller Dinge, sagt Teiresias.

Nicht zu Rande komme ich mit der Frage nach dem Verhältnis von Geist und Materie. Wäre ich Paartherapeut, würde ich sagen: zerrüttete Beziehung, aber irgendwie kommt er, der Geist, nicht los von ihr, der Materie, und sie nicht von ihm.

Bezüglich Selbsterkenntnis der Gedanke, dass, nicht was ich erkennen will, sondern was zu erkennen wäre, von ausschlaggebender Bedeutung ist. Teiresias steigt sofort darauf ein: „Selbsterkenntnis wird vor allem dann besonders scharf, je mehr du von dir absehen kannst, ohne dich aus den Augen zu verlieren“. Und mit einem schuldbewusstem Lächeln - hat er doch mal wieder in meinen Gedanken gelesen - nimmt er sein Buch zur Hand. Wenn ich richtig sehe, Watzlawick’s ”Anleitung zum Unglücklichsein”.