Dec 2021

Teiresias muss mich verlassen. Er wurde mit sofortiger Wirkung in die Unterwelt zurückbeordert. Dort geht es drunter und drüber (in der Hölle ist sozusagen die Hölle los). Gegner und Befürworter stehen sich unversöhnlich gegenüber. Gewalttätige Ausschreitungen sind an der Nachtordnung, trotz 24-stündiger Ausgangssperre. Die Sicherheitskräfte sind überfordert und ihrerseits zutiefst gespalten. Persephone und Hades sind mit ihrem Griechisch am Ende, werden der Lage weder Dame, noch Herr. Teiresias, der geborene Mediator, der Mann mit unübertroffener Schlichtungskompetenz, ist ihre letzte Rettung.
Er geht nicht gern, das spüre ich. Und ich lass’ ihn nur schweren Herzens ziehen. Er wird mir sehr fehlen. Zum Abschied liegen wir uns in den Armen. Die ein oder andere Träne kullert, auch bei ihm. Bevor er sich abwendet, um in seinem Bild zu verschwinden, sagt er noch: ”Kopf hoch, Kleiner. ’Mission Achs FisGhal’ ist noch lang nicht am Ende angekommen, sie fängt jeden Tag erst so richtig an. Und sie wird ein gutes Ende finden, meine Worte. Danke für alles”, höre ich ihn noch sagen, ”ich habe mich sauwohl gefühlt bei dir.” ”Ganz meinerseits”, rufe ich ihm nach, aber da ist er schon verschwunden im Blauareal seines Bildes. Ganz leicht umspielt ein zarter Duft von frisch gebackenem Fladenbrot und harzigem Wein meine Nase.

Eine Amsel schmettert gegen die Scheibe der Terrassentür und flattert aufgeregt (verzweifelt?) an ihr entlang zu Boden. Mit Schnabel und Krallen versucht sie sich vergeblich am Glas festzuhalten. Zusammen mit dem hektischen Flügelschlag ein unangenehmes Geräusch. Kratzen, Schaben und Picken in einem. Als ich nachsehe, ist sie verschwunden.

Der Tod vollendet ein Trennungsgeschehen, dem man zu Lebzeiten eher aus dem Weg geht.

Verbundenheit hat ihre Zeit und Trennung hat ihre Zeit, sagt Teiresias.

Ich lasse Nachfolgenden gern den Vortritt, egal, ob Mann oder Frau. Jede Tür halte ich auf, unabhängig von geschlechtsspezifischen Eigenheiten. Nur um großes Gepäck mache ich einen Bogen.

Seine Frau ist überaus stabil. Sie kann wirklich Schweres bewegen. Er nicht. Mühelos befördert sie zum Beispiel den Koffer in die Gepäckablage, sei er noch so schwer und sie noch so hoch. Das ist ihm immer etwas peinlich, weil es den Anschein erweckt, er habe kein Benehmen. Dabei ist er nur schwächer als sie (was ihm auch peinlich ist).

Zum Beispiel wäre es ihm unmöglich gewesen, seine frisch angetraute, damals noch normalgewichtige Frau über die Schwelle des Hauses zu tragen. Er wäre unter ihrer Last kläglich zusammengebrochen (später drückte ihn die Last des Zusammenlebens, aber das ist eine andere Geschichte).

Teiresias meint, es sei sinnlos, sich an Menschen zu wenden, die auf einem Ohr taub und auf dem anderen schwerhörig sind. Man fände kaum Gehör.

Ich kann eine Menge Dinge tun, mit rechts und mit links, aber ich weiß nicht so echt wofür und warum.

Ein kleiner Umzug, z. B. von hier nach dort, kommt mir mittlerweile vor, wie eine halbe Weltreise, und sollte er mir vorkommen wie eine ganze, wird es wohl zu spät sein
für ihn.

Ich hätte durchaus Nachfragen, einige, viele, aber die Angebote stimmen nicht. Ich lebe in einem anhaltenden Angebot-Nachfrage-Ungleichgewicht.

„Du wärst heute nicht, wenn du nicht von gestern wärst“, meint Teiresias und wünscht mir frohe Weihnachten und ein gutes neues Jahr (obwohl er mit Weihnachten, noch dazu heutiger Prägung, nichts anzufangen weiß).

Zufriedenheit mit den Verhältnissen mag zwar die Seele beruhigen, nicht unbedingt aber die Verhältnisse. Fakt ist: man stößt immer auf Verhältnisse, weil man sich verhält, man selbst und die anderen.

Lieber halte ich mir Augen und Ohren zu, wenn’s sein muss auch Nase und Mund, als mir Sorgen zu machen. Selbst um den Tod muss ich mich nicht kümmern.

Er ist geworden, ohne etwas zu wollen. Jetzt denkt er sich manchmal: Hätt’ ich doch bloß gewollt. Aber was, zum Teufel? Das war ja immer sein Dilemma gewesen, nicht gewusst gehabt zu haben, was er hätte wollen sollen. Da war es doch besser gewesen, den anderen beim Wollen zugesehen zu haben, mit Staunen, manchmal etwas neidisch, mit Abscheu auch. Abscheu war gut gewesen, sogar sehr gut, da war der Makel eigener Wollenslosigkeit in einem anderen, besseren Licht erschienen.

Da hat es einer geschafft aus seinen Talenten nichts zu machen, und dann nahmen die ihm das übel und fielen über ihn her, solange, bis doch noch etwas aus ihm geworden war, wider Willen.

Der Tod weiß sich zur Wehr zu setzen, letztendlich. Er lässt sich seinen Job nicht wegrationalisieren.

Quarantäne. Früher vierzigtägige Hafensperre für seuchenverdächtige Schiffe, heute allgemein verbreitet.

Keine Menschenseele weit und breit. Man ist furchtbar allein, mit sich. Gäbe es keine mediale Ablenkungsmöglichkeit, nicht auszudenken, was man mit sich anstellen würde. Wenn man wenigstens krank wäre, ein bisschen zumindest. Man verstünde die Einschränkung. Man könnte sich sogar einreden, sie diene der Rekonvaleszenz. So aber, das Haus hüten, ohne dass man krank ist?

Entscheidendes spreche ich nie aus. Gäbe ich Entscheidendes von mir, würde ich den letzten Kredit verspielen, den ich noch habe.

Wir leben das ganze Jahr in Saus und Braus, wie soll da für das Jahresende noch etwas übrig sein, außer Schildkrötensuppe.

Früher war man in der Lage, aus dem, was einem unmittelbar zur Verfügung stand, leckere Speisen zu kochen, heute meint man, dafür die Produktvielfalt ganzer Kontinente zu benötigen.

”Wenn gar nichts mehr schmeckt, mach’ mal Pause”, rät mir Teiresias.

Was mein Über-Ich nicht hinbekommt, erledigt mein Es mit dem kleinen Finger, dem linken.

Man kann sich halt vieles nicht vorstellen. Deshalb kann man auch bei vielem nicht wirklich mitreden. Je kleiner das Vorstellungsvermögen, desto geringer die Fähigkeit zur Mitsprache.

Das Absurde lebt in und mitten unter uns. Selbst auf Reisen führen wir es mit. Aber wir tun so, als ob wir und alles um uns herum logisch und klar verständlich seien. Damit halten wir uns mühsam über Wasser, auch wenn es uns bis zum Hals steht.

”Der Mensch ist ein Ertrinkender”, sagt Teiresias, ”glücklicherweise kann er schwimmen, und manchmal sogar untertauchen. Irgendwann aber gehen ihm die Kräfte aus.”

Man kann sich mit Literatur dopen, die Frage ist nur, wofür.

Die Sache mit der geistigen Kapazität ist doch die, wie oft man z. B. ein Musikstück (nehmen wir mal ein Streichquartett, Tonart soundso, Nr. soundso, komponiert von einer/m Soundso, in der Interpretation von Soundso) hören muss, bis man es aus Hunderten von ähnlichen Musiken in der Lage ist herauszuhören und zuzuordnen.

Dass ich Wünsche habe, die ich mir nicht leisten kann, ist irgendwie paradox. Nur noch das Erfüllbare sollte ich mir wünschen, sonst nichts. Und sollte ich mir keinen Wunsch, nicht den allerkleinsten, mehr erfüllen können, ist Schluss mit Wünschen. Vielleicht bin ich dann wunschlos glücklich.

Jedes Jahr aufs Neue nimmt er sich vor, an Silvester wach zu bleiben. Aber er schläft immer weit vor Mitternacht ein. Dadurch entgeht ihm die durchaus unverständliche, gleichwohl nicht zu bändigende, freudige Erregung seiner Umwelt. Wacht er dann am ersten Tag des neuen Jahrs frisch, munter und katerlos auf, denkt er verzweifelt: ich hab’s wieder nicht geschafft.

Teiresias ist der Meinung, dass es durchaus sinnvoll ist, den Jahreswechsel zu überschlafen. Das sei klimafreundlich. Und auf gute Vorsätze könne man sowieso verzichten.

Skepsis als Gebot der (Mit)Menschlichkeit.

Bei einer repräsentative Umfrage, muss logischerweise auch das Ergebnis dieser Umfrage repräsentativ sein.

Unterläuft ihm ein Rechtschreibfehler, ist ihm das sehr peinlich, selbst dann, wenn es sich nur um einen Flüchtigkeitsfehler handelt.

Auf Geselligkeit hat er überhaupt keine Lust. Geselligkeit war schon immer etwas, das ihm den letzten Nerv raubte. Das lag vor allem an den Gesellen und manchmal auch an den Gesellinnen.

Einerseits ist Schwarz gar nicht so dunkel, wie man landläufig meint, andererseits kann Schwarz schwärzer sein, als angenommen.

Bevormundung vertrage ich nicht, weder durch mich, noch durch andere.

Wenn die zweite Natur zur ersten wird und man überhaupt keine Wahl hat.

”Dann bist du in der griechischen Tragödie angekommen”, höre ich Teiresias flüstern.

Es blieb ihm gar nichts anderes übrig. Er konnte nicht länger warten, wollte er nicht riskieren, entdeckt zu werden. Er griff rasch nach Mantel, Hut und Aktenkoffer und verließ das Zimmer. Er nahm die Treppe, nicht den Aufzug. Das war sicherer. Unten angekommen wendete er sich Richtung Frühstücksbuffet, als ob er die Absicht hätte zu frühstücken. Die Rezeption war glücklicherweise in diesem Augenblick unbesetzt. Er durchquerte zügig die Eingangshalle und passierte den Ausgang. Nun stand er vor dem Hotel. Gegenüber der weite Paradeplatz, über den einige Frühaufsteher hetzten. Auch diesen Platz musste er unauffällig überqueren. Niemand sollte sich später an ihn erinnern können. Wenn er den Platz erst mal hinter sich hatte und in einer der Seitenstraßen untertauchen konnte, war er gerettet. Dann würde er in einer dunklen Hofecke die Kleidung wechseln, Mantel und Hut gegen eine legere Lederjacke und Mütze aus seinem Aktenkoffer austauschen. Die abgelegten Kleidungsstücke würden geradeso in den Koffer passen. Das hatte er ausprobiert vorher. Aber jetzt musste er erst mal diesen beschissenen, unendlich großen und leeren Platz überqueren.

Das Alterswerk verwirklicht sich gegen andere Widerstände als die Werke der Jugend und mittleren Lebensphase. Es tritt an gegen sich und den ihm innewohnenden, in Zunahme begriffenen Energieschwund.

Er ist eindeutig auf dem Rückzug, und das schon lang. Er weiß gar nicht, ob es bei ihm jemals vorwärts gegangen ist, oder ob er nicht schon immer, vielleicht von Anbeginn an, in einer Art Rückwärtsbewegung begriffen war. Er fragt sich, wohin ihn dieses anhaltende Zurück noch führen wird. Zum Anfang vom Ende (oder zum Ende vom Anfang)?

Sie hatte ihn auf eine Art und Weise zu getextet, dass er nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Er konnte nur noch an eines denken: wie diesen unterbruchlosen Wortkaskaden entkommen? Er wusste, dass er diese Stimme und dieses überschäumende Sprechgebräu nicht lange mehr würde ertragen können. Nicht auszudenken, zu was er dann fähig wäre.

Teiresias macht sich in der Küche mit Backblechen und einigen Backutensilien zu schaffen. Er will, wie ich von ihm erfahre, eine süße Spezialität seiner alten Heimat zubereiten, ein einfaches, mit wenigen Zutaten auskommendes Rezept (einfache Rezepte sind ja oft die besten), in der Zubereitung aber etwas knifflig. Es brauche Fingerspitzengefühl, zwinkert er mir verschwörerisch zu. Zuerst bereitet er einen alles andere als fettarmen Teig. In Ermangelung des Hammelfetts verwendet er Butter. Diesen Teig, der vor der Weiterverarbeitung noch einige Stunden kalt ruhen muss, rollt er nicht allzu dünn aus, sticht mit einer meiner Plätzchenformen wellige Rondelle aus. Diese werden, und dafür braucht es wirklich eine ruhige und geduldige Hand, mit einer Mischung aus Mandelblättchen, Puderzucker und geschlagenem Eiweiß bedeckt und anschließend einige Minuten bei starker Hitze gebacken. Das alles dauert Stunden, aber der Aufwand lohnt sich, geschmacklich wie visuell. Teiresias sagt, dieses Gebäck wäre bei ihnen immer zum Fest des aufsteigenden Lichts, das ungefähr unserem Weihnachtsfest entspräche, zubereitet und verzehrt worden.

Verhaltenskodex pandemischer Art: Man lebt in Sorge um die anderen und um sich selbst. Die Vorstellung der Möglichkeit eines anderen Lebens, zum Beispiel eines unbeschwerten, ist scheinbar verflogen.

Wer nicht mehr vor die Haustür kommt, lässt sich liefern, so gut wie alles. Rückkehr also zum Lieferdienst längst vergangen geglaubter Zeiten, aktuell für alle, die es sich leisten können (nur nicht so exklusiv wie vormals).

Eigentlich müsste er ständig über seine Verhältnisse leben, da er um einiges besser Geld ausgeben als einnehmen kann. Das liegt hauptsächlich daran (so hat er sich das zurechtgelegt), dass er ein sehr produktinteressierter Mensch ist. Es gibt solche Menschen, das ist ihm klar. Und er ist einer von ihnen. Nur weiß das zum Glück niemand. Und das soll auch so bleiben. Er hütet sein Laster wie ein Geheimnis. Nur selten erfüllt er sich einen seiner vielen Wünsche. Na, sagen dann Außenstehende hinter vorgehaltener Hand, jetzt hat er sich endlich mal was gegönnt.

The daily soap. Jeden Morgen das gleiche Gefühl: nicht schon wieder!

Eine Zertifizierung, die nicht von außen und nach strengen Regeln erfolgt, ist wenig glaubhaft. Deshalb habe ich Teiresias gebeten, Gutachter zu sein in meinem Sinne. Er ziert sich allerdings noch.

Teleobjektiv: man holt sich das Entfernte nah. Makroobjektiv: man macht das Nächste groß. Normalobjektiv: man bringt alles auf unmittelbar menschliches Maß. Alles eine Angelegenheit der Brennweite.

Seit ich mir kaum noch welche erfülle, habe ich so viele Wünsche wie noch nie. Andererseits, wenn ich sie mir erfülle, habe ich auch noch viele, und ständig kommen neue hinzu. Dass ich wunschlos glücklich bin, kann ich nicht behaupten.

Meine Leistungsbereitschaft ist gering, liegt im Grunde genommen bei Null. Ich halte es für eine Zumutung, etwas leisten zu sollen. Dass man im Leben nun mal etwas zu leisten hat, halte ich für Propaganda der Leistungswilligen. Leistungsspezifisch bin ich aus den Kinderschuhen nicht herausgekommen, trotz Schuhgröße 47.

Wenn ich mich freitesten könnte, wäre ich vielleicht kein besserer Mensch, zumindest aber ein freier.

Zuviel Aufmerksamkeit ist nichts, zu wenig Aufmerksamkeit ist auch nichts.

Zum Ende des Jahres durchlaufe ich immer eine Art Begutachtung. Das hat, wie der Name schon verrät, sein Gutes und dieses Gute nehme ich dann mit ins neue Jahr.

Offensichtlich sind die verführerischen Aspekte. Die Inneren liegen meist etwas tiefer, in Zonen des guten Geschmacks (oder müsste es heißen der Ehrlichkeit?).

Ich höre gern, auch zu, aber angehören ist mir fremd.

”Und wo bleibt da der Gemeinschaftssinn”, fragt Teiresias, der mal wieder mitgehört hat. Der ist bei mir vermutlich eher universeller Natur.

Leben in statistischen Zeiten. Bilanzierungen, Prognosen, Gegen- und Hochrechnungen bringen das Leben auf Linie.

Wenn man erkennen muss, dass Entscheidungen immer schon getroffen sind, obwohl man sich selbst noch gar nicht entschieden hat.

Von Zeit zu Zeit - das heißt, eigentlich so gut wie immer - verhalte ich mich mir selbst gegenüber wie ein Despot. Ich bin dann auf gar keinen Fall sicher vor mir.

Als der Meister der Qualitätssicherung Meister der Qualitätssicherung geworden war, war ihm der Sinn für unmittelbare Qualität längst verloren gegangen. Auch den letzten Rest Qualitätsbewusstsein hatte er eingebüßt. Zum Glück existierte ein Qualität sicherndes Back Up.

Ich leiste mir die Freiheit eines ästhetischen Lebens (wie andere sich die Erleuchtung eines religiösen oder die Wahrheit eines wissenschaftlichen). Selbst der Verfall meiner Existenz wird noch von dieser Freiheit bestimmt sein, möglicherweise.

Für manche Türen besitzt er einen Schlüssel, für manche nicht. Will er letztere öffnen, behilft er sich mit einem nicht ganz regelkonformen Dietrich. Unverschlossene Türen meidet er. Das wäre dann doch zu einfach.

Hinter Schloss und Riegel sitzen. Man wäre in Sicherheit. Nur noch Epidemien oder Erdbeben könnten einem gefährlich werden, abgesehen von der schlechten Anstaltsküche.

Ich stehe vor einem Schuhgeschäft wie vor undenklichen Zeiten am Zoll. Die Fragen ”Haben sie etwas zu verzollen” und ”Haben sie ihren Impfnachweis parat” gehen merkwürdig konform. Dabei will ich nichts anderes als Schuhe kaufen.

Augenblicklich das Bedürfnis (wie der tief im Laub verborgene Igel) einen ausgedehnten Winterschlaf zu halten und erst wieder aufzuwachen, wenn alles vorbei ist.

Man ist sich selbst gegenüber verantwortlich, dem Tun und Lassen anderer nur bedingt (wenn überhaupt). Ein besonders ausgeprägtes Verantwortungsgefühl für andere (und anderes) überschätzt vielleicht die eigenen Möglichkeiten. Hat man mit Selbstverantwortlichkeit nicht genug zu tun, und wäre nicht, nähme man sie ernst genug, alles getan?

”Demokratie ist nicht das Gesetz der Mehrheit, sondern die Beschützung der Minderheit.” (Albert Camus, ”Tagebuch 1951 - 1959”, Rowohlt Verlag, S. 328)

Auch wir verhüllen nun schon seit geraumer Zeit unser Gesicht, und (weiß Gott) nicht aus modischen Gründen und schon gar nicht aus religiösen, sondern aus sich hinter Vorsicht verbergender Angst.

Auch in einer Demokratie kommt man um Selbstschutz nicht herum, egal, ob man der Mehrheit oder einer Minderheit angehört.

Weit machte ich die Tür auf, letzte Nacht, aber ich konnte kein einziges Bild mehr erkennen. Erst als ich die Tür geschlossen hatte, waren alle Bilder wieder da. Ein alter Maler trat unauffällig neben mich, als ob er nicht erkannt werden wollte, und raunte mir zu, ich solle in Zukunft mit dem Öffnen von Türen vorsichtig sein und bereits geöffnete sofort wieder schließen, sonst gingen die Bilder am Ende doch noch verloren.

Hat das Teiresias zu mir gesagt, dass man sich zu sehr anpasst und am Ende zu verpassen droht?

Verhaltenskodex der Stunde: Jegliche Rechthaberei vermeiden. Schweigen statt Auftrumpfen und schon gar keine (vermeintlichen) Wahrheiten, selbst dann nicht, wenn sie hieb- und stichfest sind.

Halbwahrheiten unterscheiden sich von Wahrheiten durch die fehlende Hälfte, die meist die wahre ist, sagt Teiresias.

Nicht wieder gut zu machendes Unrecht kann nicht aus der Welt geschafft werden. Es gerät höchstens in Vergessenheit über Jahrhunderte, Jahrtausende, bis es irgendwann im Langlauf der Zeit verschwunden ist.

Nicht von gleicher Geburt, aber man lebt unter einem Himmel, wenn auch an unterschiedlichen Orten und mit unterschiedlichen Anschauungen und Auffassungen (siehe auch Albert Camus, ”Tagebuch 1951 - 1959”, Rowohlt Verlag, S. 298/299 - ”Brief an Amrouche”).

Was ich wirklich nötig habe, neben dem Wohlwollen, das mir andere entgegenbringen (und das mir (selbst) zu geben schwer fällt)? Ein geistiges Leben, das Sinn macht, ein sinnliches, das Freude bereitet, und ein künstlerisches als Fundament.

Im Zentrum gegenwärtiger Gesundheitspolitik steht nicht die Gesundheit, sondern die Frage, wie mit Gesundheit, besser gesagt mit Krankheit, Geld zu verdienen ist.

Wie ließen sich Ruhelosigkeit und das Aufreibende unserer modernen Zeit erklären? Damit, dass existenzsichernde Mittel genau dort mangeln, wo Ruhe und Muße Lebenswert erhalten?

”Was würdest du tun, wenn du viel Geld hättest”, fragt mich Teiresias. ”Ich jedenfalls würde kaum Notiz davon nehmen.”

Was ein gutes Leben ist? Ein Leben mit Maß, Liebe und Sinn, nicht zu vergessen Muße.

Man schaukelt sich so durchs Leben, meint Teiresias, vom Dunklen ins Helle und umgekehrt, und manche bleiben da oder dort hängen.

Kinder sind Genies von Natur aus, und erwachsene Genies Menschen, die sich kindliche Genialität erhalten haben.

Was passiert, wenn man nichts tut? Nichts.

Nichtstun als Äquivalent zu Strebsamkeit. Man verharrt, wo man sonst beharrt.

Ab einem bestimmten Grad Lebensintensität fällt es zunehmend schwerer, sich anderen verständlich zu machen. Man lebt dann in einer Parallelwelt eine Art zweite Existenz (oder erste), von der andere kaum etwas ahnen. Das muss nicht weiter tragisch sein, sofern man nicht durcheinander kommt.

Sich zwischendrin einmal fragen, warum man sich dies oder jenes angewöhnt hat und ob dies oder jenes einer Prüfung auf Wertbeständigkeit (immer noch) Stand hält.

Ich bin dagegen. Das ist alles.

Das Leben ist ein Geheimnis (das eigene sowieso), da kann man noch so viele Worte verlieren.

”Unsere Götter hielten sich verborgen, nicht umsonst war der Olymp immer umwölkt”, verrät mir Teiresias, ”wir haben quasi gar nicht gemerkt, dass es sie gab. Wenn sie dann aber wider Erwarten doch mal ins Freie traten und vom Olymp herunterstiegen, du meine Güte, da war der Bär los.”

Einmal wirklich frei sein, so frei, dass man die Freiheit gar nicht spürt. ”Überleg doch mal”, brummt Teiresias etwas ungehalten. ”Wie soll der und/oder die, der und/oder die nichts von seiner/ihrer Freiheit weiß, wissen können, dass er und/oder sie frei ist?” Sehr korrekt formuliert und wo er Recht hat, hat er Recht, aber ich finde meinen Satz trotzdem sinnig schön.

Es gibt nomadisierende Fische und sesshafte, oder besser gesagt ortsverbundene (da das Wort sesshaft im Zusammenhang mit Fischen dann doch etwas eigenartig klingt). Und auch unter den Vögeln finden sich Zügler, auch Nachzügler, und Standorttreue (die bleiben, wo sie sind).

Warum ausgerechnet jetzt, da ich die Ölheizung im Keller anspringen höre, der Gedanke, dass das, was da im Brenner Wärme erzeugt, ein uralter Stoff ist? Da verbrennt Historie, denke ich.

Seine Standhaftigkeit und sein Verantwortungsgefühl weiß sie zu schätzen. Vermutlich liebt sie ihn auch deswegen. Sie kennt aber auch seine Schattenseiten (wie auch nicht). Im Moment erlebt sie ihn stabil, aber wie lang noch, denkt sie sich, und weist diesen Gedanken sofort rigoros von sich. Einen liebevoll mahnenden Blick kann sie sich aber nicht verkneifen und weiß zugleich, dass er das gar nicht schätzt.

Teiresias und ich haben ein Herz für Philosophie. Neulich zum Beispiel sagte er zu mir: ”Wenn du im Unendlichen nach rechts verschwindest, kommst du bei deiner Rückkehr von links wieder heraus.” Das hätte ich mir auch schon mal gedacht, antwortete ich, aber das sei blanker Unsinn. Wer im Unendlichen verschwinde, bleibe verschwunden. Nix mit Rückkehr, weder von links, noch von rechts. ”Aber, was ich sage, ist wahr”, insistierte Teiresias. Zu Hundertprozent, fragte ich. ”Na ja, vielleicht nicht ganz. Manch eine/r geht schon mal unterwegs verloren.”

Auch eine Umschreibung fürs Sterben: den Geist aufgeben. Aber was soll das heißen? Dass man ihn wie einen Koffer am Expressgut-Schalter aufgibt und auf fahrplanmäßige Beförderung hofft? „Blödsinn“, meint Teiresias, „dein Geist - geh’n wir mal davon aus, dass du im Besitz eines solchen bist - löst sich auf im Großen und Ganzen des Geistigen, etwa so, wie dein Körper in seine elementaren Bestandteile zerfällt.“ Und was wird dann aus mir, frage ich erschrocken. „Nichts.“

Die letzte Nacht war etwas durchwacht und ich konnte deswegen meinen Traum nicht zu Ende träumen. Ziemlich ungehalten saugte ich Mäuse, die sich in meinem Haushalt eingenistet hatten, mit dem Staubsauger auf und dann wusste ich nicht, wohin damit. Jetzt, da ich wach bin, wenn auch nicht ausgeschlafen, würde ich mir den Rat geben, mit dem Staubsaugerbehälter, in dem die Mäuse zappeln, ins Freie zu gehen, einen Spaziergang zu machen, und die Mäuse, die den Saugvorgang unbeschadet überlebt haben, an einer möglichst entlegenen Stelle freizulassen, darauf hoffend, dass sie nicht zurückfinden.

Die scheinbar logische, gleichwohl totalitäre Vorgabe einer Gesundheitspolitik: dass meine Gesunderhaltung andere (und die Gesunderhaltung anderer mich) vor Krankheit und Tod schützt.

Ich weiß nicht, was mich antreibt, also lasse ich mich treiben.

In allem schwingt das Gegenteil mit. Manchmal entsteht aus dieser Schwingung ein Sturm. Dann rette sich, wer kann.

Wir hier in Deutschland blicken jetzt (die Zeit der Weimarer Republik nicht mitgerechnet) auf etwa 72 Jahre Demokratie zurück. Das ist noch nicht einmal das Durchschnittsalter eines heutigen Menschen, eine sehr kleine Zeitspanne also, eine winzig kleine, eine eigentlich kaum der Rede werte.

Mäßigung als notwendige Form des Genießens.

”Ihr geht mit Leben um, als sei es euer Eigentum”, schimpft Teiresias. ”Es ist wahrlich nicht übertrieben, euch totalitäre Absichten im Umgang mit dem Leben zu unterstellen. Nur der Tod setzt euren Umtrieben noch Grenzen. Aber den schiebt ihr ja auch ständig vor euch her, Thanatos kann ein Lied davon singen.”

Beim letzten Drink, schon lang nicht mehr nüchtern, gestehe ich mir ein: ich bin Nihilist, also jemand, der nichts gelten lässt, außer sich selbst vielleicht, und das auch nur notgedrungen (weil ich nun mal da bin), und habe das komische Gefühl, dass da etwas nicht stimmen kann.

Wer Gründe finden will, wird irgendwann welche finden, und wenn es die allerletzten sind.

Teiresias sagt: ”Nichts ist grundlos in der Welt, nur Dasein ist ohne Grund.”

Man kommt viel herum, wenn man sich treiben lässt. Man pflegt eine Sesshaftigkeit des Allüberall.

Die Wahrheit läge daneben, auch, irgendwo zwischendrin, keinesfalls nur in der Mitte, antwortet mir Teiresias, als ich ihn frage, was Wahrheit ist. Aus diesem Grund sei es von Vorteil, Wahrheit nicht absolut punktgenau zu suchen. Man schaue eher ein wenig nebenbei, lese zwischen den Zeilen, wie es so schön heißt. Was man dann erkenne, käme Wahrheit ziemlich nah. Wenn man dann noch die richtigen Schlüsse ziehen würde … Ganz allgemein gesprochen: Wahrheit, wenn es sich denn um eine handelt, sei in jedem Fall wahr, zu Hundertprozent.

Dass ich ein (ein)gebildeter Mensch bin, nutzt mir zum Glück wenig.

Über die Zeit, flüstert Teiresias, strebe alles Gebildete zu vollkommener Bildung. Man müsse nur lang genug warten können.

Ist man sich nicht verwandt in Form und Farbe und Binnenstruktur, eindrucksvoll verschwistert und verbrüdert?

Seit ich nicht mehr rauskomme, spiele ich gern Monopoly, ein Spiel, das mir früher immer suspekt war, jetzt aber genau das richtige ist. Da kann ich immerhin noch durch Straßen flanieren, an Bahnhöfen und städtischen Versorgungszentren vorbei, und ganz nebenbei durch geschickten An- und Verkauf von Immobilien, ja ganzen Straßenzügen, mein Taschengeld aufbessern. Nur, damit anfangen kann ich nichts.

Der Blick in die Malkammer von Caspar David Friedrich. Staffelei mit Bild, Malstock, Stuhl, Tisch mit Malmaterial, zwei Fenster.

Unmöglich, etwas wirklich Bedeutungsloses, unmöglich, etwas von wirklicher Bedeutung zu schaffen.

Wissenschaft ist nicht länger ein Teil (unter anderen) der Gesellschaft, sondern Gesellschaft ein Teil der Wissenschaft.

Widerstand im Gewand eines Humors, der nichts und niemand ernst nimmt, und im Galgenhumor seine höchste Würde findet. Als Humorist in letzterem Sinn muss man sich dann auf einiges gefasst machen.

Die Macht der Götter reiche ziemlich weit, sei eigentlich allumfassend, nur über den Humor hätten sie keine Gewalt, schmunzelt Teiresias. Schamlos-geistreiche Witze, noch dazu über sie, könnten sie darum auch überhaupt nicht ausstehen.

Liebe ist etwas für Lieblinge, und die verrücktesten unter ihnen lieben bedingungslos. Die anderen, weder Lieblinge, noch verrückt, müssen sich mit so etwas wie wankelmütiger Zuneigung begnügen und auf Verrückte hoffen.

Wie ich war, als man mich noch nicht kannte? Sprunghaft, schwärmerisch, orientierungslos und gern verstimmt. Wie ich bin, seit man mich kennt? Sesshaft, diszipliniert, richtungsfest und immer noch gern verstimmt.

Langsam ins Helle übergehender Morgenhimmel. Näherrückender Arbeitsbeginn. Ich verordne mir Notwendigkeit.

Wer, wenn nicht der sich selbst Überlassene, könnte entdecken, dass es Notwendigkeit im Tun gibt, fragt Teiresias, wenn auch nicht in jedem. Übrigens, fügt er noch an, ergibt sich diese Notwendigkeit so gut wie immer aus den Tatsachen des Daseins, göttliche miteingeschlossen.

Zukunft ist ein Versprechen der Kinder und für die Kinder.

Gesetzt den Fall, man hätte vor sich umzubringen. Würde das jemand interessieren, und wenn ja, wen?

Nichts weiter als ein Blatt, das der Wind vom Baum holt und zu Boden fegt.

Landflucht und Stadtsucht, und man fragt sich, warum.

Kultur entwickelt sich bodennah, Subkultur unterbödig. Augenblicklich ist Subkultur gefragt, weil über dem Boden wenig los ist.

Deutschland, du Fremde, und mir immer noch eigen zugleich, zur Zeit und eigentlich schon immer eher fremd und wann mehr, wenn nicht jetzt.

Teiresias tritt hinter mich und flüstert mir ins Ohr: ”In allem Fremden findet sich auch Bekanntes, denn es geht immer um menschliches Verhalten, ob fremd, ob bekannt, und Menschen sind wir doch alle.”

Güte, einerseits ein Signum für Qualität, andererseits emphatische Nachsicht mitmenschlichem Verhalten gegenüber.

Treibt man’s zu arg mit Sitte, Maß und Soll, so treibt’s das Leben doppelt toll.

Das ernüchternde Erscheinungsbild demokratisch bestimmter Regierungen, die längst nicht mehr im Vollbesitz des Primats politischen Handelns sich befinden (vielleicht noch nie sich befunden haben), sondern sich (mit oder ohne Eigennutz) mehr oder weniger verborgenen Interessen demokratieferner Kräfte beugen.

Letztendlich kommt man nicht drum herum, zu akzeptieren, dass das Leben in einem ständigen Veränderungsprozess begriffen ist und am Ende so oder so tödlich endet.

Die letzten Tage des Menschen sind heutzutage meist sehr kostspielig. Das heißt, dass irgendwer irgendwo viel Geld damit verdient, soviel, dass wir uns irgendwann den Tod nicht mehr werden leisten können. Dann werden wir wieder einfach nur sterben dürfen.

”Bullshit”, meint Teiresias, ”gestorben wird immer, gelebt auch, mit und ohne Mensch.”

Die drei wesentlichen Akte des modernen Menschen: Personalakte (inkl. Polizeiliches Führungszeugnis), Steuerakte, Krankenakte. Dazu eher unwesentliche Zertifikate zu Impfstatus, Blutgruppe und jährlichen Zahngesundheitsuntersuchungen.

Dass ich bin, und zwar gesund, werde ich in Deutschland fürderhin jährlich aufs Neue notariell beglaubigen lassen müssen, sonst glaubt mir das niemand.

Der Mensch muss auf die Grenzen seines Handelns nicht ausdrücklich hinweisen, sagt Teiresias, er macht sie durch sein Handeln sichtbar.

Dass Menschen heutzutage noch heiraten, ist verwunderlich, und dass sie Kinder kriegen, bedenklich. Andererseits: das Leben ist generell äußerst reproduktionsfähig und -willig.

Man kann sich gar nicht genug bewusst sein, in welchem lebensverwirklichenden und lebenserhaltenden Ausmaß Welt sich über Sinneseindrücke vermittelt. Riechen, Schmecken, Hören, Fühlen, Sehen, … Wäre man lebensfähig ohne?

Wohin mein Auge blickt, es stößt unweigerlich auf geplantes und verbautes Leben. Nirgends natürliche Unberührtheit, nirgends der Halt, den eine starke, weil unberührte Natur zu geben vermag, nirgends Gelassenheit des Daseins.

Über eine Handschrift im Zwiespalt virtuosen Ausdrucksverlangens und lässigen Dilettantentums kann sich auch nur ein Maler Sorgen machen.

Seine Reiselust ist auf dem absoluten Nullpunkt angekommen (da können die Angebote noch so ruinös günstig sein). Künftig wird niemand mehr an ihr und mit ihr Geld verdienen, nicht, weil ihn die zunehmende Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit hindern würde, sondern, weil er es nicht mehr erlauben wird. Reisen war gestern, heute ist Stillstand.

(Ab)Bilder sind in der Lage zwischen allzu nüchterner Realität und zu Phantastik neigender Imagination
zu vermitteln, sofern sie unabhängig sind, also nicht einseitig nüchtern oder phantastisch.

Teiresias meint, Wahrheitssuche sei ein unaufhörliches Bedürfnis menschlichen Geistes und Wahrheitsliebe sein standhaltendes Fundament.

Im natürlichen Erscheinungsbild besitzt das Zufallsprinzip uneingeschränkte Entfaltungskraft, im kulturellen nur bedingte. Es scheidet sich Kunst von Künstlichkeit.

Gelassenheit des Daseins fusst auf einem gelassenen Umgang mit Tod und Sterben.