Aug 2021

Traum: Wir feiern. Familie und Freunde. Das Telefon klingelt. Ich nehme den Anruf entgegen, aber niemand meldet sich. Trotzdem spüre ich, dass da jemand ist. Eine erfüllende Kraft geht von diesem Jemand aus, strahlt in mich hinein. Etwas ungehalten über den mysteriösen Anruf, der in unsere Feier hineinplatzt, beende ich das ”Gespräch”. Nach einiger Zeit klingelt das Telefon erneut. Wieder meldet sich niemand und wieder diese Ausstrahlung. So geht das einige Male. Dann meldet sich eine Stimme, leise und eindringlich: Ich soll mich, will ich mehr erfahren, an den König wenden. Der lebe unter der Brücke in einem Krankenhausbett.

Teiresias ist der Ansicht, dass die Standpunkte der Menschen gleich gültig sind. Mit manchen aber sei - nach seiner Erfahrung - nicht gut Kirschen essen.

Jede Partei ist Ausschnittsspiegelung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse.

Politiker von Berufs wegen wäre er gern geworden. Reden schwingen, das hätte ihm Spaß gemacht. Aber die Leute hätte nicht interessiert, was er zu sagen gehabt hätte. Das war ihm klar. Reden hat er trotzdem gehalten, für sich selbst, abseits, an unbelebten Straßenecken. Dort hat man ihn auch gefunden, eines Tags, niedergesunken im Wortschwall, leergeredet.

Einer wartet ein Leben lang auf Besuch, aber es schaut niemand vorbei.

Ich bin von Berufs wegen Hinschauer. Wie jeder Beruf hat auch der Beruf des Hinschauers Schattenseiten. Wo ich mich auch befinde, ich muss hinschauen und werde meines Lebens nicht mehr froh.

Gerechtigkeit ist gut, Schwesterlichkeit ist auch gut, Gleichheit aber ist problematisch, denn wir sind nicht gleich, auch nicht vor dem Gesetz.

Redefreiheit als Zünglein an der Waage demokratischer Rechtschaffenheit. Wer sie missbraucht oder einschränkt, vergreift sich am demokratischen Diskurs und damit am gesellschaftlichen Zusammensein.

Ich bin nicht freier als meine Verdauung.

Moderne Technik verleiht der Selbsthingerissenheit des Menschen neue Ausdrucksmöglichkeiten. Narziss betrachtet sich nicht länger selbstverliebt in der Oberfläche eines stillen Gewässers, sondern auf der spiegelglatten Scheibe eines Handgeräts. Und er betrachtet sich darin nicht nur auf vielfältige Weise, sondern er erzeugt dort sein eigenes, wechselndes Spiegelbild stets aufs Neue.

Kunst trennt mehr, als dass sie verbindet.

Das würdige Leben ist ein weitgehend selbstbestimmtes, sagt der moderne Mensch.

Was mich am Leben hält, ist die Aussicht auf einen selbst- oder zufallsbestimmten Tod, der meinem Leben eines nicht mehr allzu fernen Tages ein Ende setzen wird.

Teiresias ergreift den Besen und beginnt bedächtig die Terrasse zu fegen. Dann schaut er mich an und fegt die Terrasse ein zweites Mal. Beim dritten Fegen murmelt er ungehalten: was den Mensch am Leben hält, weiß im Grunde genommen niemand so genau, auch Du nicht (und ich werde mich hüten, es Dir zu offenbaren). Man tut nur so, als ob man es wüsste, gern auch unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Erkenntnis.

Im Nachlass eines berühmten Malers fand sich eine Notiz folgenden Wortlauts: Langsam ist es an der Zeit, dass ich den Pinsel aus der Hand lege, das hätte ich schon viel früher tun sollen, eigentlich von Anfang an.

Wer sich selbst genug sein kann, kann auch anderen genug sein, sagt Teiresias.

Neulich habe ich ein Bündel geschnürt. Da hinein habe ich alles gepackt, was ich nicht kann. Dann habe ich dieses ziemlich dicke Bündel vor die Tür gestellt und gewartet, bis die Müllabfuhr es mitgenommen hat. Ich muss sagen, das war ungemein erleichternd.

Der Sinn des Lebens gleicht der Schweigsamkeit eines ungemalten Bildes.

Ist eine Weiterentwicklung des Menschen, die nicht allein auf technischen Errungenschaften beruht, überhaupt noch vorstellbar?

”Nun”, klinkt sich Teiresias ein, ”bislang hat der Mensch technisch möglich gemacht, was technisch möglich war. Das hatte natürlich immer mit Entwicklung zu tun (und wird es auch in Zukunft zu tun haben), im guten wie im schlechten Sinne.”

Jegliche Kunstäußerung hat zum Ziel bedeutsam zu sein, auch wenn sie nicht unbedingt etwas bedeuten muss.

Der Wille treibt ihn voran, während sein Körper ihm Ruhe signalisiert. Aber wie soll das gehen, Ruhe im Voran? Einen Schritt vor, einen zurück, sagt er sich, so komme ich garantiert nicht mehr vom Fleck.

Wenn ich künstlerisch arbeite, finde ich mich in einem vielschichtigen Annäherungs- und Distanzierungsgeschehen wieder.

Ein neuer, ziemlich innovativer Reiseveranstalter, der wenig bis nichts im Portfolio hat. Eigentlich nur ein Angebot, eine Kreuzfahrt, die so abenteuerlich ist wie abwechslungsreich, dazu eine echte Bildungsreise. Man ist hinterher garantiert ein anderer Mensch. Das Reiseziel: man selbst. Mit dem Vertragsabschluss geht die Verpflichtung einher, für die Dauer der Reise die eigenen vier Wände nicht mehr zu verlassen. Bequeme Sitzgelegenheit und Beistelltisch sind inklusive.

Anpassungsdruck. Umso schlimmer, je weniger man einen Sinn in ihm erkennen kann.

Gott ist heiter bis bewölkt, meist jedenfalls fröhlicher Natur. Unvorstellbar, dass er seine eigene Tochter in ein Erlösungsverderbnis stürzen würde.

Das Absurde geht aus menschlichen Handlungen hervor, die ihrerseits absurd sind.

Mit der Interpretation der Welt durch die Kunst geht die Interpretation der Kunst durch die Welt einher. Nicht immer stimmen die Interpretationen überein.

Weil er die Zeit ständig vor Augen hat, sie akribisch be(ob)achtet, wirkt der moderne Mensch wie aus der Zeit gefallen.

Manche Menschen tragen den Hang zur Totalität in sich wie leicht entzündlichen Brennstoff. Der richtige Zünder und schon sind sie entflammt.

Wer liebt, hat auch Illusionen.

Übrigens, sagt Teiresias, die beste Klimabilanz ist die, die gar nicht erst notwendig ist.

Niemand hat Geld einfach so für sich. Man besitzt immer das Geld der anderen und man ist selbst Teil dieser anderen (sozusagen Zünglein an der Geldwaage).

Die revolutionäre Potenz des Aufmerksamkeitsentzugs. Die informationellen Highlights bleiben rezeptionslos. Keiner nimmt mehr Kenntnis von ihnen. Statt dessen das abwechslungsreiche Mit- und/oder Gegeneinander im direkten Umfeld. Möglicherweise eine Sensation nach der anderen, bei genauerer Betrachtung.

Würde niemand mehr Notiz nehmen von den Informationsmedien, niemand mehr zuschauen, niemand mehr zuhören, für wen würde dann noch gesendet, geschrieben? Eine ganze Branche läge brach.

Eine Gesellschaft nimmt Schaden ohne Kinder und ohne angemessene Aufmerksamkeit ihnen gegenüber. Dazu Teiresias: die Zahl der Alten sollte die Zahl der Jungen nicht übersteigen. Bei ihnen damals wäre das immer gegeben, ein hohes Alter eher die Ausnahme gewesen.

Eine zugegebenermaßen unangenehme, gleichwie heilsame Erkenntnis, dass die Welt nicht absurd ist an sich, sondern absurd wird durch den Mensch, also auch durch mich.

Zum Beispiel ist es völlig absurd, sich einen teuren Grill eines namhaften Herstellers zu leisten, um dann darauf das Billigfleisch vom Discounter zu grillen (es könnte sich dabei natürlich auch um eine besondere Form des Snobismus handeln). Wer jetzt annimmt, ich besäße einen Grill, täuscht sich.

Frage: Was machen sie mit Gedanken, die Ihnen kommen, deren Konsequenzen Sie aber in Ihrem Leben nicht berücksichtigen zu können glauben?

Manchmal träume ich vom beschaulichen Leben. Hühner möchte ich dann haben, seltene Hühnerrassen züchten (wie angeblich Romulus, der letzte Kaiser von Rom). Im Hintergrund schallendes Gelächter. Teiresias muss so sehr lachen, dass ihm die Tränen kommen: du und Hühner züchten!

Denken ist Realismus pur, selbst wenn die Gedanken unrealistisch sind.

In meiner Familie war Denken verpönt. Denken überließ man den anderen, die wussten es immer besser.

Mobilität. Segen, Fluch, Laster, Fortschritt, Lebenswert schlechthin?

Man sollte sich zwischendrin ruhig einmal fragen, ob die innere Beweglichkeit der äußeren gewachsen ist, meint Teiresias. Sie, bei ihm zu Hause annodazumal, seien annähernd nicht so mobil gewesen wie wir heute, geistig aber enorm erfindungsreich.

Fluktuation, vom lateinischen fluere, was fließen bedeutet. Nichts Festes, Bewegung ohne Ende und ohne Anfang …

Bediensteter sein. Aufwarten. Verantwortung nur für Haus und Küche. Das Dasein wäre überschaubar. Um die Widrigkeiten des Lebens müssten sich andere kümmern, die Herrschaften. Verlockende Vorstellung, wäre da nicht die Selbstbestimmung. Unterordnen, eine Unmöglichkeit. Wenn schon Aufwartung, dann nur sich selbst gegenüber.

Gott ist auch nur einer von vielen (Möglichkeiten).

Teiresias, der entspannt im Sessel sitzt und mir gedankenverloren bei der Arbeit zuzuschauen scheint, sagt leichthin: ”Das Geheimnis der Ewigkeit liegt im ”Stirb und Werde”. Das Land ohne Fehl und Tadel, gemeinhin Paradies genannt, gibt es nicht. Der Mensch ist immer unterwegs und wird immer unterwegs sein.” Ich schaue ihn überrascht an, ob dieser unvermuteten Äußerung, doch er gibt mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, er hätte nur zu sich selbst gesprochen, ich solle mich nicht stören lassen.

Gleichgültigkeit und gleich gültig. Gleich und doch nicht gleich.

Er muss als Kind schon fantasiebegabt gewesen sein. Anders ließe sich nicht erklären, warum man ihm immer wieder seine Verträumtheit, die seine schulischen Leistungen merklich beeinträchtigten, vorhielt. Mit der Zeit lernte er, sich über diesen frühbiografischen, lebenspraktischen Vorwurf hinwegzusetzen. Er ging ganz einfach seiner Anlage nach, was allerdings so einfach nicht war (aber das ist eine andere Geschichte). Heute ist er allseits anerkannter Phantasieexperte. Das liegt auch daran, dass Mensch und Gesellschaft, seit die Nützlichkeitsstrategen mit ihrem Latein am Ende sind, in zunehmender Weise auf phantasievolle Impulse bauen.

Nichts mehr zu verlieren haben. Gehen können ohne Verlust.

Und nochmal Teiresias beim Lustwandeln im Garten: Alle Kultur ist wie der Mensch, genauso gewinnbringend wie ruinös.

Je weniger ich mir vornehme, desto mehr macht mir das Wenige zu schaffen.

Ein Spielplatz. Auf einer Bank zwei junge Frauen, stumm über ihr Smartphone gebeugt. Daneben ein Kinderwagen mit einem schlafenden Baby. Auf dem Klettergerüst gegenüber ein Kleinkind. Es blickt aus halber Höhe zögernd, als ob es nicht wüsste, ob es recht sei, zu den beiden Frauen hinüber und scheint sagen zu wollen: schaut mal her, wie weit ich schon hochkomme.

Für Alles im Leben gibt es einen schlauen Spruch, der schlauer ist, als das Leben selbst es sein kann, meint Teiresias beim Morgenkaffee.

Das Fernsehen wurde zum Massenphänomen, als ich ein kleiner Junge war. Ich gehöre zur Fernsehgeneration der ersten Stunde. Das sind die, die mit ”Lassie”, ”Fury” und Co. aufgewachsen sind, „Flipper“ nicht zu vergessen. Nach gut sechzig Jahren ist Fernsehen heute, allseits und ganztägig verfügbar, zu einer narkotisierenden Selbstverständlichkeit geworden, zumindest für den gut situierten Teil der Welt. Dabei drängt sich die Frage auf, für welche Operation diese Narkose benötigt wird.

Der Mensch ist nicht mehr, aber auch nicht weniger Teilnehmender an und in der Welt (die auch ganz gut ohne ihn auskommen könnte, aus heutiger Sicht vielleicht sogar besser), Teil ihres Daseins und ihres Vergehens.

Die Welt an sich ist ohne Fehl und Tadel. Nur der Mensch, in ihr und Teil von ihr, kann da nicht mithalten.

”Mein Gott wie mich diese belanglosen Wortkaskaden nerven”, sagt der mir gegenübersitzende und in ein vor ihm liegendes Heft kritzelnde Mann und deutet mit seinen Augen unmerklich zu den beiden Paaren am Nebentisch, die sich lauthals über ihre zurückliegenden Urlaubserlebnisse unterhalten, ”man könnte meinen, sie sprächen über das Wichtigste im Leben, dabei gibt es dafür überhaupt keine Worte.”

Die Welt ist eine eindrückliche, aber nur, solange man in ihr verweilt.

Die Krankheit zum Dasein. Auf den Beipackzetteln wird nichts verschwiegen. Heilmittel sind rar.

Moderne ist perspektivlos. Sie hat keine Perspektive und kennt keine Perspektive. Die Zeit, als sie eine hatte, ist längst vorbei.

Das Neue ist nur potentiell modern. Es muss seine Modernität immer unter Beweis stellen, was eine Angelegenheit der Zeit ist.

Genial ist das vom täglichen Üben geprägte Leben, fern dem Zufall, aber nah genug, um ab und zu sich zu erfüllen.

Man sagt: Alles hat seinen Preis. Aber man übersieht die Konsequenz dessen, was man da leichthin sagt für sich selbst. Man will möglichst viel, wenn nicht alles haben, aber den Preis dafür nicht bezahlen.

Noch hat das Buch keinen Staub angesetzt. Es liegt da, als ob er es eben erst aus der Hand gelegt hätte. Es dürfte also keine Schwierigkeit sein, es aufzuschlagen und fortzufahren in der Geschichte.

Zäsuren können Anlässe sein des Gewinns wie des Verlusts.

Teiresias meldet sich zu Wort: Zaudern geht immer vom Kopf aus, nie von der Hand.

Nachdenkenswert ist das, was sich noch nicht als unumstößliche Wahrheit herausgestellt hat, also das Allermeiste.

Weltabgewandt und weltzugewandt zugleich, so gehe ich auf Reisen, ohne mich von der Stelle zu rühren.

Um den Wert oder Unwert eines zügellosen Lebens wirklich erfassen zu können, darf man sich so gut wie nichts durchgehen lassen.

Erst abends vermag man den Tag zu überschauen, sagt Teiresias, aber dann ist es meist zu spät, etwas Versäumtes nachzuholen. Man sinkt müde ins Bett und überlässt die Versäumnisse der Nacht.

Die Fülle des Lebens ist ungenießbar. Man sollte sie nur in bescheidenen Portionen zu sich nehmen, sofern dies überhaupt im eigenen Ermessen liegt.