Jan 2021

Der Zug hatte schon Fahrt aufgenommen, als sie mir auffiel, inmitten hin- und herführender Gleise, die sich teilweise kreuzten, dann wieder zueinander fanden, um sich nach kurzer Zeit wieder zu trennen. Eine Bahnhofsuhr, wie man sie an jedem, oder besser, über jedem Bahnsteig auch heute noch sehen kann. Sie saß obenauf auf einem aus Eisenträgern zusammengeschraubten Mast. Warum sie sich ausgerechnet da befand, wo sie sich befand, wurde mir nicht recht klar. Weit und breit kein Bahnsteig, nur hin und her laufende Gleise, auf denen, etwas verloren, ab und an rostige Güterwaggons standen, auch alte, längst aus der Mode gekommene Personenwagen und ab und an eine ausrangierte Lok. Bahntechnisches Brachgelände, das jedem größeren Bahnhof wie unbewältigte Vergangenheit anhaftet. Die Uhr war bei 11.54 stehengeblieben. Das erkannte ich noch, bevor sie in der Ferne verschwand.

Wenn einer Schwung hat, aber der Schwung nie ganz ausreicht, um Aufgaben zu einem guten Ende zu bringen. Kurz vorher bricht der Schwung ab, verflüchtigt sich auf unerklärliche Weise. Also alles, was der anpackt, bleibt unvollendet. Man könnte auch sagen, der bringt nichts zu Stande. Bis der dann eines Tages entdeckt, dass er der geborene Anfänger ist und niemand es mit ihm anfangsweise aufnehmen kann. Zehnmeterläufer eben, für Hundert reicht es nicht.

Teiresias sagt, dass der Beginn das Ende mehr beeinflusst, als das Ende den Beginn, wobei es generell nicht einfach sei, das eine vom anderen zu trennen.

Durchaus überlegenswert, was man den Augen zumutet, den Ohren, dem Magen, der Haut.

Alles, was man kennt, verliert unweigerlich an Anziehungskraft. Will man also die/den andere/n auch nach Jahren noch ein wenig überraschen, was bekanntlich oder angeblich eine Beziehung frisch zu halten vermag, wird man nicht umhin kommen, in eine ihr/ihm bislang unbekannte Rolle zu schlüpfen, zumindest ein wenig. Es wird meist eine Nebenrolle sein, denn die Hauptrolle kennt die/der andere schon zur Genüge. Mit ihr kann man sie/ihn nicht mehr beeindrucken.

Nur einmal möchte ich sagen können, mir selbst überzeugend sagen können: das bin ich und ich bin gut so. Statt dessen der stets mehr oder weniger laute Zweifel, dass ich das nicht bin, was ich bin, oder nicht zur Genüge bin. Und dabei weiß ich ja nicht einmal, wer ich bin.

Wenn du dir selbst nichts bedeutest, können auch andere dir nichts bedeuten. Im Umkehrschluss: Du kannst anderen nur etwas bedeuten, wenn du dir selbst etwas bedeutest.

Maltechnisch betrachtet, kann man sich in Stofffalten verirren wie in einem Labyrinth.

Du musst das Leben nicht so ernst nehmen, meint Teiresias zu mir, aber du musst mitbekommen, wann es ernst wird. Aber das musst du dann auch nicht zu ernst nehmen.

Dass wir in der Lage sind uns zu verändern, anzupassen an neue Situationen, ist (über)lebensnotwendig, meint Teiresias. Und wir verändern uns immer dann, wenn wir uns mit etwas bis dato Unbekanntem auseinanderzusetzen haben. Man könnte auch sagen, mit Vorsicht sagen: ohne Existenzdruck, keine Veränderung.

Kann eine Wissenschaft, die auf Exaktheit pocht, mit dem Begriff Zufall operieren? Muss sie das sogar, weil sie an Zufallsursachen nicht vorbeikommt?

Evolution als Zufallsgeschehen!? - Das würde bedeuten, dass ich zufällig auf der Welt bin und diese zufällig wieder verlassen werde, wenn auch mit Sicherheit.

Wenn ich etwas nicht mehr zu Weg bringe, z. B. altersbedingt, wird mich diese Einschränkung mehr oder weniger schmerzen. Dass ich sie auch als Glück auffassen könnte, weil ich mich von nun an um das Verlorene nicht mehr zu kümmern brauche, kann ich mir nur schwer vorstellen (und hängt sicher auch von der Art der Beeinträchtigung ab). Augenblicklich weiß ich nicht, wessen ich gerne verlustig gehen würde. Das Meiste tue ich gern und sehe es als sinnvollen Aspekt meines Lebens an.

Teiresias flüstert mir schmunzelnd ins Ohr: wenn du keinen Schnee mehr räumen kannst ums Haus herum, wird es sehr still werden um dich her. Es ist so schon still genug, erwidere ich, und hör’ auf in meinen Gedanken zu plündern.

Man könnte auch so fragen: Entspringt Kunst einem Bedürfnis des Menschen oder macht sie den Mensch bedürftig? Aber wer wollte das trennen und könnte das auseinanderhalten?

Da alle um ihn herum der Meinung sind, dass er das, was er tut, von ganzem Herzen tut, lässt er sie in dem Glauben und tut so, als ob er das, was er tut, von ganzem Herzen täte.

Seine Anschaffungsideen sind vielfältig. Sie überkommen ihn meist im Frühjahr. Sie treiben dann aus wie die Natur. Die in Frage kommenden Anschaffungen sind meist kostspielig. Er kann sie sich eigentlich nicht leisten. Aber andere schon. Die erkennen unzweifelhaft das Berechtigte in seinen Anschaffungswünschen, das quasi lebensnotwendige darin, auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass es mit der Notwendigkeit nicht so weit her war. Das nimmt ihm aber niemand übel, worüber er sich ein wenig wundert. So gesehen, ein vom Schicksal Begünstigter, könnte man meinen. Sein Therapeut allerdings rät ihm, jede Anschaffungsidee „auf Halde“ zu legen und abzuwarten, bis sie verschwindet. Das könnte dazu beitragen, die Großzügigkeit der anderen nicht überzustrapazieren.

Das Leben hat immer nur den Sinn, den man ihm selbst gibt, meldet sich Teiresias zu Wort. Das Leben an sich kommt ohne jeglichen Sinn aus.

Ein Liebespaar auf dem Maltuch. Natürlich darf es dabei nicht bleiben (das wäre zu einfach, darüber hinaus etwas kitschig). Mit ihm und um es herum muss noch einiges passieren, bildtechnisch, farbformal, damit aus diesem Paar ein Paar wird, das in aller Konsequenz liebt. Denn eine Bildgeschichte ist immer auch eine Lebensgeschichte. Und Lebensgeschichten gibt es nun mal nicht ohne Bilder.

Fast unausweichlich, dass du, erzählt dir jemand anhaltend von einer schlimmen Sache, die auch dich betreffen könnte, aller Wahrscheinlichkeit nach auch betreffen wird, dass du also früher oder später ein mulmiges Gefühl, wenn nicht gar Angst bekommst. Frage: warum macht das jemand?

Jedes Kratzen im Hals und/oder Jucken in der Nase bringt ihn ins Grübeln. Jetzt hab’ ich mich doch angesteckt, denkt er dann. Obwohl das nicht ungewöhnlich ist in der kalten Jahreszeit, dass es mal zwickelt und kratzt, muss er das ziemlich oft denken, zu oft. Das lässt ihn gar nicht mehr zur Ruhe kommen. Es vergisst darüber alles, ist zu nichts mehr zu gebrauchen. Er ist nur noch mit der nicht aufzulösenden Sorge beschäftigt, er könnte sich (möglicherweise tödlich) angesteckt haben.

Früher gab es noch Erkältungen ohne Hintergedanken.

Teiresias und die Kinder. Gestern holte er sie von der Straße, ermunterte sie zu einer Schneeballschlacht. Obwohl er sich tapfer schlug, ging es ihm schneeballtechnisch gehörig an den Kragen. Dem Ungestüm der Kinder hatte er wenig entgegenzusetzen. Als er endgültig besiegt war, musste er sich freikaufen. Er tat das mit dem leckeren Schokoladenkuchen, den ich am Morgen für unseren Nachmittagskaffee gebacken hatte. Was sollte ich da machen? Ich kann doch einen Gefangenen nicht seinem schweren Los überlassen! Später, es dämmerte schon, sah ich sie alle im Schnee sitzen, Sieger und Besiegter, um eine kleine Laterne herum, die auf einem Schneehaufen leuchtete, mit meinem Schokoladenkuchen und Kinderpunsch (woher der auch immer gekommen sein mag?). Nach der battle of snow die friedlichste Angelegenheit der Welt.

Das, was dir am meisten fehlt, ist das, was du am meisten suchst, verrät mir Teiresias. Also such’ nicht mehr, dann fehlt dir auch nichts.

Augenblicklich würde ich sagen in Sachen Bildender Kunst: nehmt das Gegenständliche ernst und vergesst die Abstraktion nicht.

Die Welt ist abstrakt, bevor sie gegenständlich wird. Am Ende wünscht man sie sich inständlich abstrakt zurück.

Hat man schon einmal gehört, dass das Krankenhauspersonal gesagt hätte: wir
schränken krisenbedingt unsere Dienstleistung ein? Eher würde es in der Krise untergehen, das Personal, als dass es seinen Betrieb einstellen würde. Darüberhinaus kann es krisenbedingt dienstverpflichtet werden.

Man soll seinen Nächsten lieben, auch wenn er einem Angst macht? Das ist dann doch ein bißchen viel verlangt.

Die Eiszapfen am Gartenhaus sind verschwunden. Teiresias bedauert das sehr. Es sähe aus, sagt er, als ob jemand über Nacht vorbeigekommen wäre und sie eingesammelt hätte (wie man Christbaumschmuck einsammelt, wenn die Weihnachtszeit vorbei ist).

Das ”wissenschaftlich produzierte Leben” sollte immer zu denken geben. Eine gewisse Skepsis ist angebracht, zurecht, aber keineswegs komplette Ablehnung.

Absurd, so zu malen, schrieb ein Kritiker, als ob es Kandinsky, Klee und Mondrian nicht gegeben hätte.

Was würde ich tun, frage ich mich, wenn ich Entscheidungsträger wäre? - Vor allem Vertrauen haben in meine Entscheidungen, so kontrovers sie auch sein mögen, und kontrovers wären sie immer, weil ich es nie jedem recht machen könnte.

Wer Konsens über alles stellt, verliert sein Gesicht.

Teiresias meint, dass Diskurse in Krisenzeiten schwer zu führen seien. Dafür wäre angeblich keine Zeit. Will man also unbequemen Diskussionen aus dem Weg gehen, betone man das Kritische einer Situation.

Auf gefrorenem Schnee hinterlässt man zwar wenig Spuren, aber man kann sich nicht geräuschlos bewegen, hat Teiresias entdeckt. Jeder Schritt knirscht verräterisch.

Wer geringen Gewichts ist, kann wenig in die Waagschale werfen.

Wieder mal in die Zeitung vertieft, und das ist durchaus wörtlich zu verstehen, brummelt Teiresias hinter meinem Rücken: „Niemand sei in der Lage aus dem Stand heraus eine Sache zu beherrschen. Talent allein genüge da nicht. Vielmehr bedürfe es einer gehörigen Portion Zeit, sich eine Fertigkeit anzueignen und zur Meisterschaft zu entwickeln. Es gäbe heutzutage zu wenig Menschen, die in der Lage seien, ihre ganzes Leben einer einzigen Aufgabe zu widmen. Das läge auch an den vielen Verwirklichungsmöglichkeiten, die sich dem Mensch von heute anböten, um nicht zu sagen aufdrängten. Sich auf ein Einziges zu beschränken, selbst wenn in diesem Einzigen mehr als genug enthalten sei, scheine als Verwirklichungsstrategie wenig verlockend.“

Meine Lebensaufgabe ist mein Leben, es darin zu einer gewissen Fertigkeit zu bringen, mein Ziel. Mehr Selbstverwirklichung geht nicht.

Zu vielem, was Menschen so umtreibt, habe ich nichts zu sagen. Mir fehlen da ganz einfach die Worte. Die werde ich auch nicht mehr finden, da ich sie nie kennengelernt habe. Was Hänschen nicht … usw.

Zuvorkommenheit. Man bringt jemand anderem Wertschätzung entgegen, ohne dass man etwas von ihm weiß oder erwartet. Zuvorkommenheit hat mit einstudierter oder verordneter Freundlichkeit nichts zu tun.

In dem Land, in dem ich lebe, fehlt es grundsätzlich an einer Kultur der Zuvorkommenheit. Vermutlich liegt das daran, dass es zu viele Menschen gibt, die Ansprüche stellen und meinen, diese müssten vorrangig erfüllt werden, anstatt anderen etwas mehr entgegen zu kommen.

Ein Leben ohne Rollen ist undenkbar. Es wäre völlig unlebendig. Der wahre Unterschied zwischen Mensch und Tier liegt darin, dass der Mensch eine Rolle spielen kann (das Tier nicht).

Falsche oder richtige Rollen gibt es nicht. Es gibt nur Rollen, die man verkörpert.

Wer ich bin, ist eine völlig überflüssige Frage, die sich leider immer wieder stellt.

Ich hoffe immer noch auf Besserung. Irgendwie kann ja immer etwas besser werden.

Ohne Befürworter geht es dann doch nicht im Leben. Man kann nicht alles aus sich allein herausholen.

Sobald ich die Lampe ausgeschaltet habe, schickt mir das Licht der Morgendämmerung den Tagesbefehl.

Frage: Was belastet die eigenen Kinder mehr, der Alterssuizid oder der Alterspflegefall? Wüsste ich, dass ich jenes fernen oder nahen Tages, an dem mich der Tod ereilt, kurz und schmerzlos aus dem Leben scheiden würde, ich würde mir diese Frage niemals stellen. Nicht die unausweichliche Tatsache des Todes liegt dieser Frage zu Grunde, sondern eine körperlich-geistige Versehrtheit, die ihm, dem Tod, möglicherweise vorausgeht.

Man kann sich das ja nur schwer vorstellen und noch schwieriger ausprobieren, dass man ausatmet und dann nicht mehr ein, nie mehr.

Ich tapeziere mein Leben mir Bildern und Sätzen. Das gesprochene Wort ist auch mit von der Partie. Und dann lebe ich mittendrin zwischen all dem Plunder, wie ein Trödler, der auf seinen Pretiosen sitzen geblieben ist.

Trödeln sei das Wort schlechthin, sagt Teiresias. Man sollte mehr trödeln. Wer in der Lage sei zu trödeln, dem entgehe so leicht nichts. Er sei immer zu spät dran, habe also immer mehr Zeit als die Eiligen, um etwas, möglicherweise etwas Entscheidendes, zu entdecken.

Wenn jemand sein Ende verschleppt und man sich fragt, wohin um Gottes Willen.

Ich träume recht häufig von Wohnungen. Dabei handelt es sich meist um sehr gepflegte, man könnte fast sagen um gediegene Objekte, die ich mit Staunen und Freude besichtige. Großzügige, stilvolle Räumlichkeiten, in die Jahre gekommen, aber sauber und gepflegt. Immer ist es hell in diesen Wohnungen. Eine warme Atmosphäre umgibt mich. Ich weiß, dass ich hier gut leben könnte, mit viel Gestaltungsspielraum. Meist liegen sie in den oberen Stockwerken alter, stattlicher Gebäude an belebten Straßen mit Großstadtflair. Immer übertrifft die Wohnqualität meiner Traumetablissements alles bisher Dagewesene in meinem Leben. Dementsprechend enttäuscht wache ich auf und blicke sehnsuchtsvoll zurück auf meine Traumwohnung, als ob ich gerade ein Paradies verloren hätte.

Stützungskäufe. Eigentlich ein Begriff aus der Geldwirtschaft, augenblicklich allerdings das Synonym für Käufe, die man nicht unbedingt benötigt, aber tätigt, damit andere etwas verkaufen können (wenn man schon in einer Solidargemeinschaft lebt).

Sehr überraschend kann es sein, sagt Teiresias, zu entdecken, dass man im eigenen Leben schon lange keine Hauptrolle mehr spielt, dass man nie eine Hauptrolle spielte, dass es gar nicht um Hauptrollen geht.

Gebt die Geschäfte frei, Hotels und Gaststätten, die Kindergärten, Schulen und Universitäten, und die Gesichter (nicht Benanntes inbegriffen)!

Die immer wieder neu sich stellende Frage, was ich weiß, wenn ich etwas weiß.

Manchen Schnee läßt man besser liegen, zum Beispiel den Schnee von gestern, der heute noch der gleiche ist und morgen der gleiche sein wird.

Heute können wir uns das Schneeräumen sparen, meint Teiresias beim Frühstück. Laut Wetterbericht soll es tauen.

Vermutlich ist es verkehrt, Menschen für ihr Handeln in Zweifel zu ziehen, auch wenn man der Meinung ist, einen triftigen Grund dazu zu haben. Das ist ein anhaltender Sorgenanlass, ein schier zur Verzweiflung treibender, dass man andere nur schwer zur Verantwortung ziehen kann (sofern es sich nicht um eindeutig kriminelle Machenschaften handelt), weil man davon ausgehen muss, dass sie ja guten Willens sind, besten Wissens, Glaubens und Gewissens, usw. …

Was Leben heißt, lernt man nicht im Hörsaal. Dort lernt man bestenfalls, was andere gedacht haben, wenn sie sich über das Leben Gedanken gemacht haben. Andererseits: steckt man mitten im Leben drin, so richtig tief, fällt es schwer herauszufinden, was es bedeutet oder bedeuten könnte.

Heute ist Tag des Gelben Sacks. Am Tag des Gelben Sacks (der in der Mehrheit Plastikabfall enthält) wird selbiger von der Müllabfuhr abgeholt. Das geschieht im Abstand von etwa vier Wochen, zumindest bei uns ist das so. Ich finde, dass mein Gelber Sack immer noch zu voll ist (immerhin, es ist nur einer!). Obwohl ich mir viel Mühe gebe, Plastikverpackungen zu vermeiden, den Inhalt des Sacks zu reduzieren, will mir einfach nicht gelingen. Als Verbraucher stoße ich da an Grenzen persönlicher Müllvermeidungsmachbarkeit. Also bleibt es vorerst bei einem Gelben Sack alle vier Wochen. Aber ein Halber wäre besser, die Hälfte vom Halben noch besser und am besten gar keiner.

Ich habe einen Wunsch. Um mir den erfüllen zu können, muss ich sparen. Ich bin gespannt, wie lang. Soviel sei verraten: um ein Auto handelt es sich nicht.

Mit manchen Menschen kann man ein Gespräch nur führen, wenn man ihnen den dialogischen Vortritt lässt.

Teiresias vertritt die Ansicht, dass es klüger sei, sich weder in fremde, noch in eigene Angelegenheiten einzumischen.

Neben dem Zählen von Schneeflocken bereitet es Teiresias auch viel Freude, dem Längenwachstum der vom Gartenhausdach herabhängenden Eiszapfen zuzusehen.

Ob du dir einen Sachverhalt ausreichend angeeignet hast, erkennst du daran, ob du ihn einem anderen verständlich erklären kannst.

Aktuelle Buchempfehlung: ”Die Stadt der Blinden” von José Saramago.

Wer würde nicht gern so viel Geld zur Verfügung haben, dass er nicht rechnen müsste beim Einkauf. Man würde dann ganz anders schauen auf Produkte und ihren Preis, großzügiger, spontaner und in gewisser Weise hemmungsloser.

Auf die Frage der Herkunft, warum man ausgerechnet in die Familie hineingeboren wurde, deren Mitglied man nun ist, gibt es mehr oder weniger überzeugende Antworten. Keine wird allerdings empirisch-wissenschaftlich überzeugen können, erst recht nicht, wenn sie auf Zufälligkeit des Geschehens pocht.

Nachts aufgewacht. Im Nachgang noch Szenen eines aufwühlenden Traums. Großes Herzklopfen und durch Brust und Bauch unangenehm flutende Sensationen.

Wenn man nicht in der Lage ist zuzugeben, dass bestimmte Entscheidungen, die man in der Vergangenheit getroffen hat, nicht das bewirkt haben, was man sich von ihnen erhofft hat. Man hält an ihnen fest nur, um sich den Irrtum nicht eingestehen zu müssen.

Ich sei kein Intellektueller, meint Teiresias, ich tue nur so. Mein Intellekt stünde zu oft auf der Kippe, was für einen Intellektuellen Gift wäre. Außerdem hätte ich zu wenig Bücher im Kopf. In Wirklichkeit wäre ich herzorientiert, so sehr, dass ich bloßer Intellektualität nicht über den Weg trauen würde, so klug ich auch sei.

Ruhe hat bei mir immer etwas von Ruhe vor dem Sturm. Der Sturm bin ich.

Heute wird kein Schnee geräumt. Heute ist Schnee unantastbar. Auch das Gehör freut sich an den kristallinen Geräuschen, die frostiger Schnee bei Berührung in der Lage ist zu verursachen.

Für jemanden, der seine Brötchen mit einer Tätigkeit verdient ausschließlich des Geldes wegen, müssen Künstler eine Zumutung sein. Keine Zumutung sind nur die Berühmtheiten unter der Künstlerschaft, zum Beispiel van Gogh oder Mozart oder Hölderlin. Auch wenn er mit ihnen nichts anfangen kann, sie sind zu berühmt, als dass er sie als Zumutung betrachten könnte. Er kommt nicht umhin, Ihnen einen gewissen Respekt zu zollen für ihr allseits anerkanntes, künstlerisches Lebenswerk, das er vermutlich nicht kennt. Obwohl, verrückt soll der eine wie der andere gewesen sein und knapp bei Kasse waren sie alle, von Anfang an und bis zum bitteren Ende. Brotlose Künstler eben!

Was gute Kunst ist, kann ich nicht sagen (vermutlich konnte ich das noch nie, war nur der irrigen Annahme ich könnte es). Um das bestimmen zu können, müsste ich einen Maßstab haben, mit dessen Hilfe ich Kunst klassifizieren könnte. Aber ich kenne keinen. Vermutlich gibt es ihn nur für Vergangenes und in einem eng begrenzten Rahmen, wenn überhaupt. Daraus schließe ich, und das seit Jahren, dass ich künstlerisch tun und lassen kann, was ich will. Es wird immer richtig sein, oder falsch, oder beides zugleich, egal eben, aber das spielt keine Rolle. Hauptsache Kunst!

Vielleicht Kunsterklärungssätze. Zum Beispiel: Kunst ist, was gekauft wird, oder, Kunst ist, was interessiert (aber nicht unbedingt gekauft werden muss). Kunst ist eine Geldverdienmöglichkeit wider aller Erfahrung. Kunst ist von ausschlaggebender Bedeutung. Kunst ist völlig bedeutungslos. Kunst ist eine Sache des Zufalls. Kunst ist unbrauchbar. Kunst ist auch, was gekonnt wird. Kunst ist das ganze Leben. Kunst ist Chaos. Kunst bildet. Kunst verführt. Kunst ist Sache des rechten Moments und vor allem des rechten Geschmacks. Und so weiter …

Mit Nachdruck will man mich seit einiger Zeit davon überzeugen, dass ich sterbenskrank bin. Hartnäckig werden immer wieder neue, schlagende Argumente ins Feld geführt, die die alten manchmal widerlegen, am Prekären meines Gesundheitszustands aber keinen Zweifel lassen. Um Klarheit zu gewinnen in dieser Befindlichkeitsfrage, suche ich Spezialisten auf. Sie sind durchweg alle der gleichen Meinung: ich bin sterbenskrank. Die müssen es ja wissen, denke ich mir zerknirscht. Und auch wenn ich mich bislang nicht krank gefühlt habe, schon gar nicht sterbenskrank, spüre ich plötzlich ein Gefühl sich langsam ausbreiten in mir, das irgendwie möglicherweise mit Krankheit zu tun haben könnte.

Teiresias ist der Ansicht, dass sein Bewusstsein verändert, wer im Winter nicht mehr im Kreis um eine Feuerstelle herumsitzen muss. Dem Feuerstellenbewusstsein früherer Zeiten stünde heute ein Solarzellenbewusstsein ungeheuren Ausmaßes entgegen.

Ich gehöre einer Minderheit an, welcher, verrate ich nicht. Aber so viel sei gesagt: meine Minderheitszugehörigkeit berechtigt mich zu nichts.

Wer spricht schon gern über sein Alter, meint Teiresias zu mir, die Jugend ist angeblich dann vorbei, wenn es einem nicht mehr gelingt, auf einem Bein stehend, die Schuhe zuzubinden.

Eigentlich ist der Grund meiner Erblindung ein anderer gewesen, verriet mir Teiresias gestern Abend während unseres Nachtessens. Die Story vom Ehestreit zwischen Zeus und Hera habe ich anlässlich einer Cocktailparty aus dem Ärmel geschüttelt, als man mich um eine lustige Begebenheit aus meinem Leben anging. Einen Gott erblickt man nicht ungestraft und eine Göttin - noch dazu, wenn sie unbekleidet ist - erst recht nicht. So aber erging es mir, als ich mich eines Tages verirrt hatte auf einer meiner Wanderungen. Es war sehr heiß an diesem Tag und ich sehr durstig. Froh war ich daher, als ich, versteckt hinter allerlei Gehölz, ein Gewässer entdeckte, einen kleinen See, idyllisch eingebettet zwischen Baum und Strauch. Klarstes Wasser bis auf den Grund. Gierig beugte ich mich hinab und trank. Als ich mich aufrichtete, sah ich sie aus dem Wasser steigen, Athene höchstpersönlich, splitterfasernackt, strenge, aber ebenmäßige Erscheinung, kein Gramm zu viel, durchtrainiert vom Scheitel bis zur Sohle. Dass ich nicht sofort tot hinsank, war ein Wunder. Aber das Augenlicht kostete es mich schon. Für meinen letzten Augenblick hätte ich mir Aphrodite aussuchen sollen. Nun, ich hatte Glück im Unglück. Da ich ohne Vorsatz gehandelt hatte, quasi nur zufällig und tölpelhaft in diese verfängliche Situation geraten war, und Athene selbst sich großzügig für mich bei Zeus, dem Göttervater, verwendete, wurde mir das Leben geschenkt und zusätzlich die Gabe der Weissagung verliehen. Berufsbezeichnung: Blinder Seher! Also, merk’ dir: steigt eine unbekleidete Frau aus dem Wasser, und sei sie noch so begehrenswert, schau lieber nicht hin. Du kannst nie wissen, ob es sich nicht um eine Göttin handelt. Und das ist jetzt die Wahrheit?, fragte ich. Eine der Vielen war die Antwort.

Sehr zu seinem Leidwesen - er tut das nicht gern - kommt er ein ums andere Mal nicht drum herum, anderen zu signalisieren, dass er jetzt nicht gestört sein will. Wie sollen sie das sonst merken, wenn sie es nicht von selbst bemerken?

Karriere wird gemacht im Zusammenhang mit Menschen, die schon Karriere gemacht haben.

Ich weiß im Grunde nichts von mir. Alles, was ich weiß, weiß ich von meinem zweiten Gesicht, das auch nicht viel mehr weiß als ich, aber so tut, als ob es mehr wüsste.

Seine Lebenshaltung war stets eine ichbezogene gewesen. Bevor er sich überhaupt die Sichtweise eines anderen Menschen hätte zueigen machen können, bezog er bereits Position für sich.

Der Schnee ist liegengeblieben und es schneit unaufhörlich weiter. Teiresias steht am Fenster, zählt Schneeflocken und bewundert die weiße Pracht. Nachmittags stiehlt er sich weg und ich schleiche hinterher, weil ich wissen will, wohin. Die Schlittenbahn ist sein Ziel. Ein kurzer Abhang am Rand des Dorfs, etwa 50 Meter lang, recht steil, mit kleinen Buckeln, die die Schlitten ein ums andere Mal aus der Bahn werfen, sehr zur Freude der Kinder. Wer heil drüber kommt, ist Schlittenkönig. Dorthin also wendet er sich. „Ist das nicht herrlich“, sagt er zu mir, als ich neben ihn trete, denn er hat natürlich bemerkt, dass ich ihm gefolgt bin, „diese Freude, dieser kaum zu bändigende Bewegungsdrang. Bei uns schneite es nie. Nur gestürmt hat es manchmal, heftig, von der Ägäis her. Dann wurde es ungemütlich und alle drängten sich um die Feuer, eingehüllt in ihre Schaffelle.“ Später zeige ich Teiresias meinen alten Schlitten im Keller, verstaubt, mit rostigen Kufen. Ich wollte ihn eigentlich schon wegschmeissen, aber nun macht sich Teiresias mit Schmirgelpapier und Fett drüber her. Ich vermute, dass er ab heute, solange noch Schnee liegt, jeden Nachmittag mit meinem alten Ding (das nun, dank ihm, so alt nicht mehr aussieht) am Schlittenberg sein wird. Ich höre schon das misstrauische Gerede im Dorf, vom älteren Herrn mit orientalischer Kopfbedeckung und Ledersandalen, der mit den Kindern Schlitten fährt.

Kinder haben zur Zeit viel Zeit, um fürs Leben zu lernen. Die Schule kommt nicht mehr hinterher.

Das Leben verlagert sich von Außen nach Innen, klammheimlich, still und leise.

Ich befinde mich nun schon seit über einem Monat im Ruhestand, aber ich merke nichts davon. Meine Tage ziehen weiter ihre Spur wie gehabt. Ich frage mich etwas besorgt, wann ich endlich all die Dinge tun werde, die ich eigentlich nie tun wollte, die man aber tut, wenn man in Ruhestand geht.

Mein größtes Projekt ist lebenslang. An ein Ende werde ich damit wohl nicht kommen. Eher wird mein Ende ein Ende damit machen.

„Du darfst nicht immer so tiefsinniges Zeugs schreiben“, mahnt mich Teiresias, „das versteht doch kein Mensch. Schreib mal etwas übers Landleben, über Hühner, Schweine, Esel, Blumengärten und Vögel. Damit können die Leute was anfangen. Kochrezepte kommen auch gut an.“

Was den Mensch bekümmert, kommt meist von Außen, sagt Teiresias, wenn es von Innen kommt, ist das ein Anlass zur Sorge.

Schreiben (wie Lesen) ist eine besondere kulturelle Errungenschaft. Lebenslang begleitet Handschrift eine Biografie, verleiht ihr ein Schriftbild, vom zarten, suchenden, ungelenken Beginn, entlang späterer Alltagsroutine persönlichen Schreibstils, bis zum schleichenden, wie unaufhaltsamen Verlust desselben im hohen Alter. Schreiben gleich Leben, eine Art motorischer Biografie.

Kunst ohne Autorschaft ist natürlich Fiktion. Aber es gibt Werke, hinter denen sie verschwindet, die Autorschaft, aus welchen Gründen auch immer, zum Beispiel zeitbedingten.

Sein Tun ist überaus fehlerbehaftet. Er leistet sich weit mehr Fehler, als er für seine fachliche wie persönliche Weiterentwicklung benötigen würde. Fehlerquellen im voraus zu erkennen, gelingt ihm einfach nicht. Minderes Vorstellungsvermögen, vermutlich. Früher konnte er Fehler meist zeitnah beheben. Als ihm das nicht mehr gelang, begann er sie zu vertuschen. Heute funktioniert auch das nicht mehr. Jetzt kleben seine Missgriffe wie Werbebanner an ihm, regelmäßig von neuen, aktuelleren Versäumnissen ersetzt.

Ich werde geliebt und weiß nicht so recht, warum. Das ist doch ausgezeichnet, meint Teiresias, auf jeden Fall besser, als zu wissen, wofür man geliebt wird.

Verweigerung ist ein legitimes Mittel der Fortschrittsverhinderung, vor allem, wenn so genannter Fortschritt sich als Rückschritt erweist. Vorübergehend, gleich einem retardierenden Moment, hat Verweigerung Anteil an jeglichem Entwicklungsgeschehen. Sie schafft Zeit zum Überdenken auch dort, wo scheinbar keine Zeit zu verlieren ist.

Meine Ansichten sind von vorgestern. Aktuell habe ich überhaupt keinen Schimmer. Wie ein gefangenes Insekt hänge ich im Netz der Aktualitäten, eingesponnen und regungslos.

Meine handwerkliche Unfähigkeit ist so ausgeprägt, dass es mir nicht einmal gelingt, einen undichten Siphon zu reparieren. Deshalb meide ich Baumärkte. Zu Vieles dort erinnert mich daran, dass ich als Heimwerker ein Versager bin.

Welche Bedürfnisse sind gemeinschaftsverträglich und welche nicht?

Bedürfnislos zu sein, ist weder für das Individuum, noch für die Gemeinschaft erstrebenswert. So trachte ich auch nicht mehr danach, meine Bedürfnisse einzuschränken oder gar vollends bedürfnislos zu werden.

In meinem Fall: Werk mit Autor, bislang und vorerst.

Er ist ein haltloser Mensch. Ihn hält so schnell nichts, hat noch nie etwas gehalten, wenn überhaupt, dann nur vorübergehend und fälschlicherweise. Was er nicht kann: aufhalten (sich), angemessen verhalten (sich), halten ganz allgemein (weder sich, noch andere). Dass es ihn gibt, immer noch, grenzt an ein Wunder.

Über manches, was mir unter die Augen kommt, denke ich: das hättest du nicht geschrieben, geschweige denn veröffentlicht. Vermutlich, denke ich mir dann, denken das manch andere auch über mein Geschreibsel, sollten sie es je lesen.

Teiresias zum Thema Selbstzweifel: ”Wer etwas nicht so gut kann, weiß auch immer, was er gut kann.“

Augenblicklich kann man sich leicht den Mund verbrennen. Leichthin Gesagtes - weil man denkt, der andere ticke ähnlich locker wie man selbst - führt zu Irritation, zu Verstimmung, gar zu unüberbrückbarer Entzweiung. Plötzlich ist man Gegner, bedrohlicher Feind, der gefährlichem Irrglauben anhängt.

Der Durchschnitt der Bevölkerung und seine Sicht aufs Leben. Aber was ist der Durchschnitt? - Statistisch betrachtet gehöre auch ich zum Durchschnitt, in irgendeinem Zusammenhang.

Auch früher bin ich aus einem Alptraum mit erhöhtem Puls und Herzklopfen aufgewacht. Doch heute bereitet mir das, ich will nicht sagen Angst, aber eine gewisse Sorge.