Feb 2021

”Ein beschauliches Leben”, frage ich Teiresias. ”Eher eine Seltenheit”, antwortet er, ”und heutzutage alles andere als einfach.”

”Was das Leben anbetrifft, ist jegliches Steigerungsdenken mit Vorsicht zu betrachten, wenn auch nicht völlig von der Hand zu weisen”, meint Teiresias, während wir uns Gedanken machen über 107 sinnvolle Ideen für ein besseres Leben.

Nun weiß ich definitiv, dass ich zum Klub der Alten gehöre. Die Mitgliedskarte ließ mir gestern eine auch nicht mehr ganz so junge Dame des McDonald-Teams zukommen, als sie mir auf äußerst freundlich-zuvorkommende Art und Weise bei der digitalen Auswahl meines Abendmenüs behilflich war (obwohl ich sie gar nicht darum gebeten hatte). Nun gut, so musste ich schon nicht den großen Auswahlbildschirm mit meinen Fingern betatschen. Für mich eine gelungene Hygieneprophylaxe. Nach Beendigung meiner Abendmahlzeit, jahresaktuell wie immer im Freien, klopfte ich mir auf die Schulter: ”Na, Alterchen, hat’s geschmeckt?”

Die junge Frau seitlich vorne im Wagon, die immer mal wieder verstohlen eine Pulle unter der Jacke hervorholt (mit einer langsam gleitenden Bewegung, der absolut anzumerken ist, dass niemand wahrnehmen soll, was da zum Vorschein kommt), um einen kräftigen Schluck zu nehmen. Oberflächlich betrachtet sieht man ihr nichts an.

Teiresias schüttelt mir die Hand: alles Gute zum Geburtstag und bleib’ gesund. Der Tod ist ja immer mit von der Partie, das war er von Anfang an (seit du auf Erden weilst), du weißt nur nicht, wann er dir die Hand reichen wird. Aber da kannst du nichts dran ändern, also zerbrech’ dir den Kopf nicht deswegen. Übrigens, lässt du heute Abend eine Party steigen? Wenn ja, ich wäre dabei. Aber nur du, antworte ich, deine Zechkumpane aus der Unterwelt nicht auch noch. Versprochen, antwortet er.

Das ist doch ein großes Glück, denke ich später, dass mir Teiresias über den Weg gelaufen ist. Manchmal wird aus einer Vorstellung durchaus Wirklichkeit. Fantasie kennt halt doch keine Grenzen. „Du willst mich doch nicht etwa in die Fantasy-Ecke stellen?“, höre ich seine Stimme. Hätt’ ich mir ja denken können, dass er mal wieder gelauscht hat.

Geburtstage gab es für ihn nicht. Es wusste auch kaum jemand, wann er Geburtstag hatte. Und die, die es wussten, hätten sich gehütet, ihn daran zu erinnern. Kam jemand, um ihm zu gratulieren, wurde er unwillig. Feiern könne er auch so, da bräuchte es keinen Geburtstagsgrund. Man müsste nur einmal diesen sonnigen Tag betrachten, wie sein Licht die Natur zum Leuchten brächte, sagte er dann immer. Wenn das kein Anlass zum Feiern wäre (und immer schien dann auch unerklärlicher Weise die Sonne, wie zur Bestätigung seiner Aussage). Allerdings lud er nie jemanden zum Feiern dieses Anlasses ein.

Wenn es am Geburtstag niemanden gibt, der einem zeigt, wie sehr er sich freut, dass es einen gibt.

Geburtstag als Individualereignis. Einmal im Jahr steht man uneingeschränkt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Schön, bei dir sein zu können, flüstert mir Teiresias beiläufig ins Ohr, bevor er sich dem täglichen Studium der Zeitung hingibt.

Jeder Geburtstag fordert mich verheißungsvoll wie trügerisch dazu auf, über mich selbst hinauszuwachsen, was mir anhaltend nicht gelingt.

Ein Leben ohne Grenzen ist nicht erstrebenswert, sagt Teiresias. Grenzenlos leben - was ja nicht gelingen kann, aber bitte - bedeutet, das Verbindende im Leben aus den Augen zu verlieren. Außerdem sei eine Kante, an der man sich den Kopf stößt, ab und an sehr förderlich.

Jenseits aller Unterschiede wartet nichts auf mit nichts.

Manches ist so offenbar, dass man offenbar nicht in der Lage ist es wahrzunehmen. Darum auch bereiten Offenbarungen Schwierigkeiten.

Offenbar ist Erkenntnis auch eine Möglichkeit (sich zu irren).

Übrigens, bevor ich es vergesse, meldet sich Teiresias nochmals zu Wort: Kehrichteimer, Schaufel und Besen sind sehr nützliche Gegenstände.

Künstlernaturen formulieren gern einmal Dinge, die sie nicht kennen und sind hinterher ganz erstaunt, dass sie sie haben kennenlernen dürfen.

Erkrankte ich ernstlich, jetzt, könnte ich sagen: Na ja, was willst du mehr, du hast deine Zeit gehabt. Ehrlich gesagt aber läge mir auf der Zunge: Scheiße, ich hab’ doch noch einiges vor.

Wahre Meisterwerke haben Schwächen.

Im Großen und Ganzen ist der Mensch sehr regional orientiert. Führe er hin in die große, weite Welt, zu leben an anderem Ort, er würde wieder im Randständigen landen.

Der Süden hat für mich immer etwas Verlockendes gehabt (und hat es in eingeschränkter Form noch). Aber leben würde ich im Süden nicht wollen.

Teiresias dazu: Wer im Süden leben möchte, muss seine Gangart verändern, mindestens einen Gang herunterschalten. Er muss sich sozusagen ein wenig ausbremsen. Aber wer kann das schon? Außerdem wäre das auch nordwärts möglich, zumindest in der Theorie. Allerdings, fügt er noch an, was die Küche anbetrifft, macht dem Süden so leicht keiner was vor.

Eine Versuchung, immer wieder anzunehmen (dieser wundervoll verlockenden Annahme zu erliegen), man sei einzigartig. Im günstigen Fall ist man eigenartig, im ungünstigen nicht auszustehen.

Es gibt auch eine Versuchung der Selbstaufgabe, auch verführerisch, man kann sich selbst in der Sorge um das Gemeinwohl geschickt aus dem Weg gehen.

Er verabredet sich lieber mit sich als mit anderen. Da weiß er wenigstens, was ihn erwartet, selbst wenn er zu spät kommt.

Warum man der Ansicht ist, die Ehe sei ein erstrebenswerter Zustand, Lebensglück schlechthin, ist ihm unbegreiflich. Noch unbegreiflicher ist ihm, was man für den Bund der Ehe alles veranstaltet. Es müsste sich doch längst herumgesprochen haben, dass das Heiratsglück und die danach einsetzende Eherealität in krassem Gegensatz zueinander stehen. Seine eigene Ehe sei ein gutes Beispiel. Sie habe gerade mal zwei Jahre gedauert und bestand aus einer unsäglichen Aneinanderreihung von Missverständnissen.

Wer heiratet, sollte nicht vergessen, dass er irgendwann auch wieder geschieden wird.

Ich will gar nicht zu viel wissen über mich. So kann ich mich wenigstens ab und an noch ein wenig überraschen. Aber überraschender Weise beschleicht mich der Verdacht, dass es soviel Überraschungen nicht mehr geben wird.

Das sogenannte gute Leben, flüstert mir Teiresias ins Ohr, man passt sich an und dann hat man es verpasst.

Schulbildung. Man verdrückt Stück für Stück den Wissenskuchen und wird doch nicht satt.

Mit dem Auge erklimme ich einen zarten Ast und taste mich zweigwärts zu den Spitzen hin, zu Blüten und Blättern, verborgen noch in langsam sich dehnenden Kurven zarter Knospen. Naturschwelgerei.

Wenn einer zielsicher den rechten Moment verfehlt, gerne die Stimme erhebt zum falschen Zeitpunkt, und dabei doch nichts Rechtes zu sagen hat.

Teiresias greift den Gedanken auf (der Lump hat mal wieder gelauscht), indem er meint, dass Weise nicht deshalb schwiegen, weil sie nichts zu sagen, sondern weil sie die Sinnlosigkeit jeglichen Sagens eingesehen hätten. Statt dessen trieben sie dann Magie (hoffentlich weiße).

Die Uhr ist ein Ding. Mit ihrer Hilfe nähert man sich maßvoll der Zeit oder unterwirft sich ihr maßlos.

Das Vibraphon ist auch ein Ding. Ein Musikding, bestehend aus einem Metallgestell mit Rahmen, auf dem unterschiedlich breite und lange Metallplatten mit darunter befindlichen Resonanzröhren befestigt sind. Die Metallplatten werden mit weichen Schlegeln (Mallets genannt) angeschlagen. Dann klingen sie, tönen. Das Vibraphon gehört zur sogenannten Familie der Mallets-Instrumente. Weitere Familienmitglieder sind das Xylophon und das Marimbaphon (beide mit Holzplatten). Von diesen unterscheidet es sich - neben der Verwendung von Metallklangkörpern - durch einen Dämpfungsmechanismus und durch eine elektromechanische Vorrichtung zur Erzeugung eines kürzer- oder längerwelligen Vibratos.

Manchmal bringt eine kleine Begebenheit, die kaum der Rede wert zu sein scheint, das Fass zum Überlaufen. Dann geht einer, zum Beispiel, spät abends noch einmal raus, um Zigaretten zu holen, und kehrt nicht mehr zurück. Jahre später findet man ihn, weit weg, in einem fremden Land, am Ufer eines Gewässers, im Buschwerk. Er muss dort schon Tage gelegen haben, bevor man ihn fand. Sein Erscheinungsbild: völlig heruntergekommen. Ein anderer Mensch.

Ich sitze im falschen Zug. Ich weiß genau, der Zug auf dem Nachbargleis wäre der richtige. Aber ich kann mich nicht bewegen. Aufzustehen, das Abteil zu verlassen, den Zug, und zum anderen Gleis hinüberzugehen, ist mir unmöglich. Ich sitze wie zementiert auf meinem Fensterplatz, regungslos, und beobachte mit zunehmender Panik, was um mich herum vor sich geht. Ich rufe, aber niemand nimmt Notiz von mir. Als ein Pfiff ertönt und der Zug auf dem Nachbargleis abfährt, weiß ich, dass das ein Unglück für mich ist. Ein Mann vom Zugpersonal betritt mein Abteil. Er macht mich darauf aufmerksam, dass dieser Zug, in dem ich nach wie vor regungslos sitze, hier endet und ich bitte aussteigen soll. Ich weiß, dass ich das jetzt, nachdem ich den Zug von nebenan versäumt habe, nicht überleben werde.

Aussteigen und Einsteigen sind zwei Seiten ein und derselben Medaille, meint Teiresias.

Zur Schönheit gehört ein schönes Auge, ein guter Geschmack und ein offenes Ohr (und einiges andere auch noch).

Gestalterische Arbeit beinhaltet und fusst auf Handlungsvielfalt. Nur die Tuschformen des Zen vollenden sich mit dem ersten Ton, der vermeintlich zeitlebens der Gleiche bleibt.

Die Augenblicke rieseln durch mich hindurch wie durch ein Sieb. Unmöglich sie festzuhalten. Und ich würde sie doch so gerne zu Quadern formen, um eine Heimstatt zu fügen. Herzlich willkommen im ’Haus des Augenblicks’ würde ich über den Eingang schreiben.

Flüchtig wie der Lufthauch eines kühlen Morgens, der sehnsüchtig und ein bißchen bang den ersten Sonnenstrahl erwartet, in dem er sich - als ob er nie gewesen wäre - auflöst. Meine Zeit.

In der Welt und ihr fern. Wie geht das zusammen?

Fantasie kennt keine Grenzen. Das weiß doch jeder. Aber Wissen allein genügt nicht.

Pathos als künstlerische Verdichtung der grundlegend menschlichen Not: zu allem berufen zu sein, aber nie gerufen zu werden.

Zum Beispiel kann ich mich entscheiden, ob ich heute malen will, oder zeichnen, oder Musik machen, oder irgend etwas anderes. Ich bin also ein freier Mensch. Das Einzige, was ich nicht kann: mich zu entscheiden, nicht zu entscheiden.

”Übrigens”, schaltet sich Teiresias ein, ”jeder Schritt, den du machst, ist eine Entscheidung, ob du dir dessen bewusst bist oder nicht. Deshalb auch sollte man vor weitreichenden Entscheidungen immer einen Spaziergang machen.“

Schon im Moment der Geburt (und vielleicht vorher schon) ist man dem Tod überantwortet. Die Frage ist nur, wann genau er seiner Verantwortung nachkommt und von wo nach wo die Reise geht und ob überhaupt gereist wird.

Man stirbt vom Geistigen ins Physische und vom Physischen ins Geistige. Man wird geboren vom einen ins andere. Vermag diese Vorstellung irgendetwas an meinem Leben zu ändern, außer dass sie vielleicht etwas Schönes an sich hat?

Das unbeschwerte Leben gibt es nicht, klopft Teiresias energisch mit dem Knöchel auf die Tischplatte, aber wir Menschen streben trotzdem unaufhörlich danach, als ob das die einzige Rebellion ist, die uns bleibt.

Die Physis hat immer Recht. Da kannst du dich auf den Kopf stellen.

Wenn man nichts zu sagen hat, beschreibt man etwas, um überhaupt etwas sagen zu können (und das ist nicht das Schlechteste).

Ein Glück, dass es Menschen gibt. Wer sonst sollte einem beistehen in der Stunde der Not?

Wenn einem jemand nicht so nah sein kann oder will, wie man es sich wünscht von ihm. Wenn es einem selbst ähnlich geht.

Sokrates, überspitzt: dass ich nichts weiß, weiß ich ganz genau.

Mögliche Arbeitstitel: ‚Der Mensch aus pandemischer Sicht‘, oder: ‚Leben in pandemischen Zeiten‘, oder: ‚Wie die Pandemie mein Leben bereichert hat‘, oder: ‚Mit der Pandemie auf du‘, oder: ‚Vor der Pandemie ist nach der Pandemie‘, oder: ‚Die Pandemiefalle‘, oder: .…

Nichts im Leben kehrt wieder, auch die Kindheit nicht. Man lässt sie zurück, irgendwann. Plötzlich ist man so erwachsen, dass man glauben könnte, niemals eine Kindheit gehabt zu haben. Doch an manchem klebt man wie das Insekt auf dem Honigbrot. Sich davon frei zu machen, gelingt nicht. Man bleibt immer Kind seiner Kindheit, im Schlechten wie im Guten.

Wenn der andere über die Jahre fremd geworden ist. Man weiß genau genommen nicht (mehr), um wen es sich da handelt. Man scheint vor einem Unbekannten zu stehen. Dass dieser Unbekannte trotzdem so etwas wie Verbundenheit in einem hervorruft, ist seltsam, fast unbegreiflich, und es schmerzt. Ein Verbundenheitsschmerz, der unter die Haut kriecht und stachelt. Ob es dem anderen auch so geht?

Das Wort Erfahrung ist immer und überall bewegungsorientiert.

Im Zentrum meines Erfahrens steht die spielerische Bewegung. Für sie und im Hinblick auf sie bin ich Experte, allerdings ohne Rat geben zu können.

Der Experten für spielerische Bewegung sind wenige und selten bietet sich ihnen die Gelegenheit zum Austausch. Aber man weiß sich auf bewegende Art und Weise verbunden.

Man kommt allein und man geht allein.

In meinem Leben hat eine Menge Platz, nur das Leben nicht, das Leben, wie es halt so ist. Ich könnte nicht behaupten, dass ich vor dieser Art Leben zurückscheue, aber es ist so gar nicht von Interesse für mich. Daraus auf Lebensuntüchtigkeit zu schließen wäre falsch.

Ich habe vom Leben gelernt, dass es nicht so wichtig ist, das immerhin.

Der Stein, den Sisyphos bergauf stemmt (und der ihm, oben angekommen, entgleitet und bergab poltert, um erneut bergauf gestemmt werden zu müssen, usw.), ist der Stein des Lebens, sagt Teiresias und fährt fort: ”Dem Mensch ist eine kürzere oder längere Lebensspanne gegeben. Währenddessen hat er sich gefälligst darum zu kümmern, dass er, der Stein, ihm nicht auf dem Herzen lastet, sich gar an die Stelle des Herzens setzt. Steine lässt man am besten liegen, wo sie sind. Dass Sisyphos sich seit Ewigkeiten diese Mühe macht ist unbegreiflich”.

Ich habe keine Zeit mehr für die Kommentare der Kommentare der Kommentare und ich will auch keine Zeit mehr dafür aufwenden.

Der Tod mag es nicht, wenn man Aufhebens um ihn macht. Am besten man lässt ihn links liegen (oder rechts). Ganz vergessen sollte man ihn allerdings nicht.

Bislang gab es in meinem Leben immer Menschen, die mich vor der ein oder anderen Unbill bewahrt haben. Sie waren zur rechten Zeit für mich da und in der Lage, etwas für mich zu tun, manchmal Rettendes. Ausnahmslos taten sie das stillschweigend, was mir oft erst im Nachhinein bewusst wurde. Ich bin ihnen für ihre Hilfe bis heute zutiefst dankbar.

Was man nur sehr unvollkommen vermag (auch wenn man meint, man müsste das können): jemand anderen vor sich selbst bewahren.

Vor allem mit mir muss ich Umgang pflegen. Jeden Morgen, beim Blick in den Spiegel, wird mir das unzweifelhaft vor Augen geführt.

Die Würde des Menschen ist nicht ausschließlich seiner körperlichen Unversehrtheit verpflichtet (womit nicht gesagt sein soll, körperliche Unversehrtheit sei der Würdigung nicht wert).

Sieben Uhr. Minus 9 Grad Celsius. Amseln sitzen aufgeplustert wie kleine Luftballons im harschigen Schnee und picken das gefrorene Fruchtfleisch aus der Schale eines Apfels.

Nicht jeder Mensch kann alles. Ich zum Beispiel bringe nicht die körperlichen Voraussetzungen mit für einen ernstzunehmenden Gewichtheber. Dazu kommt, dass alles, was den Anschein erweckt von Gewicht zu sein, mir physisches Unbehagen bereitet.

Weder Kaffee, noch Tee kann Teiresias viel abgewinnen. Sie hätten, sagt er, immer Wein getrunken, roten, schon morgens, aber immer mit Wasser vermischt. Ein Teil Wein, zwei Teile Wasser. Unvermischten Wein hätte es nur abends gegeben und zu festlichen Anlässen, zum Beispiel zu den Dionysos-Feierlichkeiten, die er speziell sehr geliebt hätte. Wer sich Wein nicht leisten konnte, trank Wasser.

Ich kann nicht achtgeben auf mich. Andere, solche, die mich gar nicht kennen, müssen mir sagen, was ich zu tun und zu lassen habe, damit ich sagen kann, ich gebe richtig auf mich acht, also so, dass ich andere nicht gefährde.

Einer hat jetzt Probleme mit dem Atmen. Er weiß gar nicht mehr, ob er noch atmen soll, ob er das noch darf. Das, was er einatmet, muss er ja wieder ausatmen, und das bedeutet, dass andere das, was er da ausatmet, einatmen müssen. Das darf er denen doch nicht antun. Bleibt nur Atmungsverzicht, genauer Ausatmungsverzicht. Ist aber schwer zu realisieren, genau genommen gar nicht. Aber er könnte ja wenigstens jeden vierten Atemzug ausfallen lassen. Das wäre doch machbar.

Ein Gesundheitspolitiker schlägt vor, dass man diejenigen von der Maskenpflicht ausnehmen könne, denen es gelänge, ihre Atmungsaktivität, qualitativ wie quantitativ, auf das Niveau eines Säuglings herunterzuschrauben. Auch ein strikt eingehaltenes Schweigegelübde könne von der Verpflichtung zum Tragen einer medizinischen Mund- und Nasenbedeckung befreien.

Alle meine Masken sind aufgebraucht. Mir fällt keine mehr ein, die ich noch tragen könnte.

Halbzeit klingt unverfänglich. Man denkt unwillkürlich an ein Fußballspiel. Endzeit tönt viel dramatischer. Da schwingt Tragödie mit.

Wenn jemand so viel Verständnis hat mit seinen Mitmenschen, dass man mit ihm machen kann, was man will. Selbst auf eine Ohrfeige hin reagiert er mit Verständnis. Er gibt sogar am Ende sich selbst die Schuld für dieses demütigende Ereignis. Irgendetwas muss es an ihm gegeben haben, was den anderen zu seiner Backpfeifentat hingerissen hat. Dass es sein Verstehensverhalten sein könnte, kommt ihm nicht in den Sinn.

Der Klügere gibt eben nicht nach. Er tut nur so. In Wirklichkeit plant er in der Zwischenzeit die Untat, die den anderen zu Fall bringen soll, die er aber, weil er klug ist, nie ausführen wird.

Manch einer verpasst sein Leben, weil er nie nachgeben konnte, mancher, weil er immer und überall nachgegeben hat.

Irgendwann wurde ihm klar, dass er nie Teil einer Hierarchie sein könnte. Dass andere, weil er von ihnen abhängig wäre, mit ihm hätten machen können, was sie wollten, was für eine Zumutung. Statt dessen muss er jetzt ohnmächtig zuschauen, wie andere, ihm nahe Stehende Teil einer Hierarchie sind, die mit ihnen macht, was sie will.

Wer mitbestimmen will, muss sich fragen, ob er überhaupt bestimmend sein kann, so bestimmt, dass er andere zum Einknicken bringt und zur Folgsamkeit bewegt.

Kritiker äussern, er sei gegen Ende seines Lebens völlig unwillig geworden, auch nur irgendetwas aus seinem Oeuvre zu zeigen. Die Kunsthallen und Galerien hätten sich alle Mühe gegeben, ihn zu lukrativen Präsentationen zu überreden, aber er hätte jede Offerte ausgeschlagen. Je mehr die Nachfrage zugenommen hätte, desto mehr hätte er sich zurückgezogen, geradezu verbarrikadiert in seinem Atelier. Dabei hätte er gerade in seinem Spätwerk Erstaunliches zu Weg gebracht.

Menschen, die sich nicht in irgendeiner Weise auf das beziehen, was man macht, können eigentlich keine Freunde sein.

Teiresias meint, als wir auf unserem Morgenrundgang durch den Garten der aufsteigenden Sonne entgegen blinzeln, irgendwann im Leben käme man an den Punkt, an dem man erkennt, dass man von nun an nichts Neues mehr machen kann. Man hat zur Genüge zum Ausdruck gebracht, was in einem angelegt war. Künstlernaturen gäben sich allerdings mit dieser Erklärung nicht zufrieden. Sie sännen immer noch auf ein Weiteres. Da käme ihnen die Möglichkeit des Vertiefens gerade recht, Vertiefung zum allerletzten Grund hin.

„Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, sagt Theodor W. Adorno in seinen „Minima Moralia“. Ein bestechender Satz, den man natürlich in seinem Kontext lesen muss. Aber wie das mit bestechenden Aussagen so ist, sie fallen leicht aus dem Rahmen, sie drängen geradezu aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus. Die Frage ist, ob es sein kann, dass ein falsches Leben sich als richtiges herausstellt, und ob man bestimmen kann, was ein falsches, was ein richtiges Leben ist.

Man muss eine Wahrheit nicht beweisen können. Gewußt wie, stellt sie sich auch ohne Beweis treffsicher wie tragend unter Beweis.

Fast ein Jahr Maskengesellschaft. Die Hersteller freuen sich über die rege Nachfrage. Ab und an, schon fast zum Straßenbild gehörend wie leere Zigarettenschachteln, abgeworfene, verbrauchte Exemplare. Die vormaligen Besitzer werden neue Masken tragen, womöglich noch schützendere.

Seit ich mich nur noch maskiert in der Öffentlichkeit zeigen darf, fällt es überhaupt nicht mehr auf, dass ich eine Maske trage.

Eigentlich fühlt er sich von anderen immer beeinträchtigt. Ob sie wollen oder nicht, sie halten ihn ab von seinen unverbindlichen und für seine Mitmenschen völlig nutzlosen Beschäftigungen. Käme Gott herein, er würde sich von ihm gestört fühlen.

Teiresias meint, dass hinter allem immer noch etwas anderes stecke. Die Welt und mit ihr der Mensch würden mehr verbergen als preisgeben, ja, man könne durchaus sagen, dass sie ihr Dasein einer gewissen Verborgenheit verdanken.

Wenn zwei sich vormachen, sie würden sich lieben und das auch noch glauben, und dann eine Familie gründen. Dabei sind nur Hormone im Spiel, chemisch verursachte Liebesillusionen sozusagen, zyklisch bedingte Hingezogenheiten. Versiegt die Hormonproduktion, kommt die Wahrheit ans Licht.

Was ist der Unterschied zwischen einem erfolgreichen und einem erfolglosen Künstler? Dem einen werden Ausstellungen angedient und ausgerichtet, der andere muss sich um sie bemühen und sie am Ende selbst ausrichten (zumindest, wenn er gesehen werden will).

Was andere von mir sehen, ist das, was ich ihnen zeige. Nur in seltenen Momenten, wenn ich unaufmerksam bin, meine Selbstkontrolle vernachlässige, sehen sie vermutlich das, was ich wirklich bin, wozu ich auf Grund meiner Nachlässigkeit wenig zu sagen habe.

Menschen, die einem nichts beweisen müssen, sind sehr angenehme Zeitgenossen.

”Erkenntnisvermögen hat doch mehr mit einem festen Standpunkt zu tun, als ich angenommen habe”, sinniert Teiresias. ”Wenn das stimmt, dass alles in Bewegung ist, fällt Erkennen schwer. Man versucht es trotzdem, hält Prozesse fest (friert sie regelrecht ein), die im Moment ihrer Beschreibung schon wieder dabei sind sich zu verändern. Dass man überhaupt beschreibt, ist Indiz genug für die Annahme eines mehr oder weniger festen Standpunkts.”

Zweiter Februar. Der spürbare Lichtgewinn. Weihnachtszeit adé. Warum ausgerechnet der Zweite und nicht der Dritte oder Fünfte? Vermutlich eine menschliche Entscheidung von nordhemisphärischer Bedeutung.

Stagnation oder Fortschritt. Wenn man sich immer häufiger nach dem Unterschied fragt und ein Trennendes nicht wirklich überzeugt und man sich hinaus- oder hineinsehnt ins Unentscheidbare, ohne viel Aufhebens darum zu machen.

Ein Meister der Nachahmung ist, wer sich selbst gleicht.

Wenn ich bin, wie ich bin, gibt es rein gar nichts zu sehen. Es ist, als ob es mich nicht gäbe.

Schon komisch, meinte Teiresias neulich zu mir, dass so viele Menschen das Gefühl haben, es werde zu wenig Notiz von ihnen genommen. Hat das mit fehlender Aufmerksamkeit zu tun oder mit überbordender Selbstbezogenheit? Vermutlich mit beidem, antwortete ich, wobei die technischen Kommunikationsmöglichkeiten das ihre dazu beitragen im Hinblick auf Selbstdarstellung und Aufmerksamkeitsgenerierung. Wieviel Zuwendung für den anderen da noch übrig bleibt, bestimmt jeder selbst.

Die zwischenmenschlichen Unterschiede sind evident. Es bleibt die Gattung Mensch, die einem auf Grund ihrer Artenvielfalt mitunter sehr sonderbar erscheinen kann.

Manche sagen, er hätte Glück. Er könnte sich selbst verwirklichen. Dabei hat er von einem Selbst so gut wie keine Ahnung. Von Selbsterkenntnis zum Beispiel würde er nie sprechen wollen. Selbst wenn er sie hätte, er würde ihr nach Möglichkeit aus dem Weg gehen, weil sie seinem Selbst unerträglich wäre.

Selbsterkenntnis ist etwas für Menschen, die sich gerne selbst quälen.

Man kann sich durchaus ein Leben lang mit etwas völlig Unnützem beschäftigen. Selbst wenn jemand (unverschämter Weise) sagen würde: das ist kompletter Unsinn, was du da machst, vorstellbar wäre es, dass man mit sich und dem eigenen Tun völlig einverstanden ist, egal was andere dazu meinen.

Teiresias, über die Zeitung gebeugt: Angst vor dem Sterben ist menschlich. Aber im Moment scheint es mir zu viele Menschen zu geben, die Angst vor dem Sterben haben. Das führt zu allerhand absurden Zuständen.

Der Lebenstüchtige ist deshalb lebenstüchtig zu nennen, weil er mit dem Lebensüberdruss, an dem andere verzweifeln, so umgeht, als wär’s ein Gewinn (fürs Leben).

Auch das ist eine Aufgabe des Lebens, sagt Teiresias, dass der Mensch lernt, seinen Mitmensch auszuhalten (von Liebe ist da noch gar nicht gesprochen). Aber die Aufgabe ist schwer, vielleicht zu schwer, auf jeden Fall mühsam. Kaum einer sieht sich ihr restlos gewachsen, auch bei uns in der Unterwelt nicht.

Augenblicklich sage ich ganz uneigennützig zu mir, es wäre schön, mal wieder lustvoll einkaufen zu gehen. Auch ein Drink, abends, in einer verrufenen Bar, wäre ein echtes Highlight.

Du musst nicht alles mögen, weder an anderen, noch bei dir selbst. Aber kennenlernen, was dir nicht liegt, solltest du schon (das könnte Teiresias auch nicht besser gesagt haben).

Er kann sich keine Wünsche vorstellen, die in der Lage wären, ihn zu beherrschen. Dabei hat er durchaus Wünsche, sehr schöne, edle sogar. Aber er erfüllt sie sich nicht, oder nur sehr selten. Kurz bevor es soweit wäre, dass er sich einen Wunsch erfüllen könnte, schreckt er davor zurück. Als ob Wunscherfüllung etwas Verbotenes wäre. Er muss den Wunsch dann größer machen, größer, als er in Wirklichkeit ist. Er muss ihn aufbauschen zu einer undurchdringlichen Sehnsuchtswolke, in die er seine Wunscherfüllungszweifel stecken kann.

Wer immer nur das Gute im Blick hat, übersieht gern das Potenzial des Schlechten im Hinblick auf das Gute, sagt Teiresias. Aber natürlich, über Schlechtes ist schwer hinwegzukommen.

Freiheit erwächst aus Gebundenheit mehr, als Gebundenheit aus Freiheit.

Wenn sich Politik beschränkt auf den gewinnbringenden Ausgleich gut situierter Interessen.

Man erklärt die hohen Miet- und Immobilienpreise mit dem Hinweis auf gesteigerte Nachfrage. Man vergisst dabei, dass Geld sich zu retten versucht. Und Grundbesitz ist immer die letzte Rettung.

Seine Mutter hatte ihre Werte im Krieg verloren. Daher sprach sie späterhin gern von Werten. Sie meinte dabei allerlei Dinge, mit denen sie sich im Lauf der Zeit ersatzweise umgeben hatte. Er solle gut achtgeben auf sie, sagte sie gerne zu ihm, nach ihrem Tod wären sie um einiges mehr Wert als jetzt. Doch nach ihrem Tod blieb er auf all diesen Werten sitzen. Es fanden sich bedauerlicherweise keine Interessenten, die bereit gewesen wären, diese Werte wert zu erachten. Damals beschloss er, in Zukunft, seiner Zukunft, Werte möglichst zu meiden.