Mar 2019

Mein Leben nützt sich ab. In der Unschärfe allzu klarer Lebensverhältnisse verschleißt es ungehindert und mein Körper mit ihm. Noch kann ich den Abnutzungsprozess verbergen, aber ich spüre, wie es mir in zunehmendem Maße schwerer fällt, seine Spuren zu verwischen. Schon bald werde ich sie nur noch ungenügend kaschieren können, bis zu dem Tag, an dem sie an mir kleben werden wie ein Plakat, das eine letzte, ernste Musik ankündigt. Bis dahin gilt es, eine gute Figur zu machen, gute Miene, nicht zum bösen, aber zu einem mehr als merkwürdigen Spiel.

Gesetzt den Fall, man würde ihnen anbieten, ihr Leben noch einmal leben zu können, wie würden sie sich entscheiden, und wie fiele ihre Entscheidung aus, hätten sie die Gelegenheit eines nochmaligen Lebens eingedenk all ihrer bis dato gesammelten Erfahrungen? - Anders gefragt: Bereitet ihnen die Annahme wiederholter Erdenleben Unbehagen oder ein einverständiges Wohlgefühl?

Als ich ihn das erste Mal sah, war er schon sehr alt. Ein mittelgroßer, schlanker Mann, dem Hemd und Hose schon lange nicht mehr zu passen schienen, mit hochstehendem, kurzem, fast ein wenig struppigem Haar. Wie viele Männer seines Alters vernachlässigte er sein Äußeres. Die Wohnung, die auch sein Atelier beherbergte, entsprach seinem Erscheinungsbild. In die Jahre gekommen auch sie, spärlich möbliert, auf den ersten Blick leidlich sauber. Er war zu diesem Zeitpunkt in Kunstkreisen schon lange berühmt, ein geschätzter und trotz seines Alters immer noch nachgefragter Spezialist für Portraitmalerei, der er in Sujet und Handschrift eine ganz eigene Ausprägung verlieh. Gerne, sofern sie dazu bereit war, malte er seine Kundschaft liegend und entblößt. Scheinbar willenlos hingestreckt auf Diwan, Bett oder Teppich, wie hypnotisiert, musste sie ihrem Portraitisten in sehr eigenwilligen, aber völlig unerotischen Positionen über Wochen und Monate immer wieder zur Verfügung stehen, bis ihr Bild vollendet war. Als schön waren die Menschen, die er abbildete, nicht zu bezeichnen. Und schön konnte man auch die Art und Weise der Wiedergabe nicht nennen. In seinem Werk kamen ungeschminkt seine Sichtweise wie sein malerisches Handeln zum Ausdruck, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Er selbst bezeichnete sich als einen autobiografischen Maler. Sein Interesse galt nur scheinbar der Oberfläche dessen, was er vor sich sah: Haut mit ihrem gewebsstofflichen Untergrund, eingebunden, fast eingesperrt, in die personale Topografie eines liegenden oder sitzenden Körpers. Dem vertieften Blick des Außenstehenden offenbart sich darüberhinaus eine äusserst lebendige Pinselführung, die, wenn auch gekonnt, nur zum Teil den räumlichen Gegebenheiten des Körpers nachzuspüren scheint. Unter der Vorgabe einer realistischen Malweise verteilt sie die im übrigen zurückhaltende Farbigkeit virtuos strukturierend über die portraitierten Körper, die dergestalt neben einem gegenständlichen auch eine Art abstrakten Eindruck hinterlassen.
Seine Werke wurden teuer gehandelt, schon zu Lebzeiten. Er hinterließ ein mehr als beachtliches Vermögen. Als ich ihn das letzte Mal traf, am Tag seines Todes, war er gerade mit einem liegenden Aktportrait beschäftigt. Ein alter Mann, vertieft in seine lebensbestimmende Tätigkeit, im Rahmen des körperlich Möglichen aktiv und geistig-seelisch regsam. Von seinem bevorstehenden Tod ahnte er wohl nichts. Er hätte sich wahrscheinlich auch nicht weiter darum gekümmert.

Manchmal geht es mir mit Kunst wie dem Kind in Hans Christian Andersen’s Märchen ”Des Kaisers neue Kleider”.

Alt wie Jung wollen noch etwas erlebt haben. Die einen, bevor sie gehen müssen, die anderen, bevor sie der Alltag des Lebens aufzusaugen beginnt. Wer verstünde nicht diese Lebens(sehn)sucht, vor allem die jugendliche (weil sie irgendwie dazugehört zum Jungsein)? Der Welt- und Lebensdrang der Alten dagegen berührt eher peinlich in seinem Bemühen, sich im unaufhörlich entschwindenden Diesseits anhaltend einrichten zu wollen.

Ein widersprüchliches Unterfangen, gleichzeitig im Verborgenen zu bleiben und strebsam nach Anerkennung.

Was wir als Schöpfung bezeichnen, ist der Zufall universalen Geschehens, gespiegelt im bescheidenen Fassungsvermögen unseres menschlichen Daseins.

Die zweifellos richtige Erkenntnis, der Mensch könne nicht existieren ohne den Mensch, kann zur Überbetonung des Gemeinschaftlichen führen. Sie übersieht dabei, dass beeindruckende Leistungen, auf welchen Gebieten auch immer, meist (wenn nicht überhaupt nur) von Individuen realisiert werden.

Wer auf Individualität pocht, gerät leicht unter Verdacht ein Egoist zu sein. Ein immer und überall latentes Gemeinschaftsstreben beargwöhnt individuelles Leistungsvermögen und ist jederzeit bereit, es seiner Welt und Mensch erlösenden Gemeinschaftsdoktrin zu unterwerfen.

Die folgenreichste Erkenntnis meines Lebens bislang: dass ich ein Mensch bin.

Die kurze Sentenz hat etwas von einer Glasscherbe, an der man sich leicht schneidet.

Wer Geschmack hat, weiß wie etwas schmecken muss, das heißt, er besitzt eine individuell klare Vorstellung davon, ob etwas stimmig ist oder nicht. Kunst hat immer mit Geschmacksfragen zu tun.

Ich bin ein Dilettant, der nach Vervollkommnung strebt, und immer wieder mit Erfolg beim Dilettantismus landet.

Besser, zu sich aufzuschließen als hinter sich zurückzubleiben.

Sterben und Geborenwerden sind gegensätzliche Aspekte in einem überindividuellen und zeitdifferenzierten Erneuerungsprozess.

Ich wünschte mir den Spielraum der Kindheit erhalten zu können. Welch Geschenk, wenn selbst in hohem Alter noch kindliche Neugier aus meinen Augen leuchtete.

Wer das Leben systematisiert, läuft Gefahr, es in eine Zwangsjacke zu stecken.

Kann man mit jemandem befreundet sein, ohne ihn zu kennen, ja, ohne zu wissen, ob es ihn überhaupt gibt? - Wenn sie diese Frage mit Ja beantworten können, sind sie vermutlich ein gläubiger Mensch und/oder haben Gott bereits kennengelernt.

Wie soll man sich den Einfallsreichtum des Menschen erklären, andere Menschen ins Elend zu stürzen?

Wer freut sich nicht, wenn sich etwas Neues tut, und sei die Veränderung noch so bescheiden. Die durchaus hilfreiche, aber manchmal eintönige Alltagsstruktur wird aufgelockert und schenkt für kurze Zeit das Glück des Anfangs. Aber wie ”jedem Anfang ein Zauber innewohnt”, so auch eine Entzauberung. Denn früher oder später lässt der Zauber nach. Der Beginn hat sich gewandelt und ist Bestand geworden. Spätestens dann wird es Zeit ...

In einer Welt ohne Gott, hat der Mensch nichts zu lachen, in einer göttlichen aber auch nicht.

Will man dem Leben eine geistig-künstlerische Dimension abgewinnen, so ist das, bei aller Inspiration, ein Unterfangen eigenen Wollens.

Betrete ich meinen Arbeitsraum, wird mir jedes Mal aufs Neue bewusst, dass es sich hierbei um einen Wohnraum handelt, der mir nur vorübergehender Weise als Atelier dient und über dessen Wohnzweck ich mich nur unvollkommen hinwegsetzen kann.

Randbemerkungen können den Alltag durchleuchten.

Manchmal bin ich mir selbst so unverständlich wie das vernünftiger Weise nur möglich ist.

Gestern nahm ich ein Buch zur Hand, um es ein zweites Mal zu lesen und seinem Inhalt vielleicht doch noch nahe zu kommen. Dabei fiel mir auf, dass ich mir fremd gebliebene Bücher selten ein drittes Mal lese.

Wo man nicht weiß, bei allem Erkenntnisbemühen nicht, bleibt nur der Glaube, es sei denn, man ist in der Lage, das, was man nicht weiß, vollkommen auszublenden (als ob man es nie hätte wissen wollen), was vermutlich nicht geht. Insofern ist auch Agnostizismus schwer zu verwirklichen, selbst und gerade dort, wo es um Gott geht.

Das Werk geistigen wie auch künstlerischen Lebens ist ein unaufhörliches, fantasievolles Trachten nach Erfindung.

Prinzipiell Werden und Vergehen. Darin Erscheinungsformen aller Art und Größe, die verschiedene Stadien dieses Prozesses in unterschiedlichen Zeitdimensionen zum Ausdruck bringen. Schwer vorstellbar, dass in diesem Zusammenhang Endlichkeit vorgesehen ist.

Dass wir einer überweltlichen Hoffnung Ausdruck verleihen mit dem Wort Gott, beweist nicht, dass diese Hoffnung berechtigt ist. Sie beweist aber auch das Gegenteil nicht.

Etwas, dessen Existenz ich weder beweisen, noch nicht beweisen kann, ist zumindest geheimnisvoll.

Dem Dasein einen Sinn zuzuschreiben ist menschlicherseits so gewollt wie unmöglich.

Schnee fällt in meinen Tag, ungestüm verwirbelt vor einem grauen Horizont, der für einen schmerzhaften Moment seine zeitdehnende Hand um mein Herz legt und mir das Licht bereits früherer Tage mutwillig entzieht.

Im Alter lässt die Leidenschaft nach, sagt man. Nichtsdestotrotz trachte ich verrückter Weise danach, dies zu widerlegen.

Solange es Wände gibt, wird es auch Malerei geben.

Atheismus bezieht sich immer, wenn auch in der Verneinung, auf ein göttliches Etwas. Wäre er konsequent, hätte er keine Bezeichnung für seine Lebenseinstellung, die - als atheistische (
die Widersprüchlichkeit des Begriffs hingenommen) - aus nichts anderem bestehen dürfte als aus Gleichgültigkeit. Schon Desinteresse wäre eine inkonsequente Regung.

Was ich nicht zu ändern vermag (weil es nicht in meinem Einflussbereich liegt) bewahre ich auf unter der Rubrik Unmöglichkeiten, die mit Abstand umfangreichste.

Es muss neben den gelungenen Werken auch die weniger gelungenen geben. Wie sollte man sonst wissen, was gelungen ist?

Sei dir selbst gegenüber ein wohlwollender, aber harter Kritiker, eingedenk deiner begrenzten Möglichkeiten.

Manches, was man in der Jugend entdeckt und schätzen gelernt hat, ist auch im Alter noch von Bestand. So seltsam das vielleicht erscheinen mag, es lebt darin ein ganzes Leben, das sich gleich bleibt, ohne je das Gleiche zu sein.

Karriere im Beruf und Karriere in der Familie besitzen Seltenheitswert.

Überlege, ob du tun würdest, was du tust, gäbe es andere nicht.

Was der Mehrheit gefällt, kann nicht gut sein. Ein verbreiteter Irrtum (derjenigen, die kulturell etwas auf sich halten), oder ein wahres Wort, das auf Erfahrung beruht?

Querdenker sind mir sympathisch, eben Sand im Getriebe einer zu rund laufenden Maschinerie.

Ein gebildeter Mensch ist nicht gleichzusetzen mit einem kultivierten. Während dieser immer auch gebildet ist, muss jener nicht unbedingt kultiviert sein.

Kultur ist nicht gewusste, sondern gelebte Bildung.

So wenig Gesellschaft wie möglich, aber so viel wie nötig.

Statistisch betrachtet liegt meine Lebenserwartung bei 79 Jahren. Warum habe ich das Gefühl, hier liegt ein Missverständnis vor?

Was ”Otto Normalverbraucher” denkt, bzw. was er nicht denkt, kann einer bestehenden, leidlich funktionierenden Gesellschaftsordnung den Garaus machen.

Den eigenen Tod kann man nur einmal erleben. Das macht ihn so kostbar (wie die Geburt), lässt ihn aber auch unwirklich erscheinen, dem Leben entzogen. Ein Fremdes, das Besorgnis erregt.

Die eigentliche Herausforderung in der Malerei (wie in künstlerischen Gestaltungsprozessen allgemein) besteht darin, den eigenen Ausdruckswillen, das eigene Ausdrucksvermögen und das im Sinne der Werkidee entgegenkommende Eindrückliche werkbildend zu verknüpfen.

Realismus in der Kunst ist der Weg von einer Werkidee hin zu einer meist differierenden Erscheinungsform dieser Idee. Auf einen knappen Nenner gebracht: dass etwas immer anders wird als gedacht.

Freizeit ist der Zustand zeitlosen Empfindens (im Sinne von Zeitfreiheit), nicht das Gegenteil von Arbeit.

Im Zusammenhang mit Freizeit kann auch Nichtstun erholsam sein.

Übst du Kritik, sei dir der Teilnahme an einem Prozess bewusst, der das hervorgebracht hat, was du kritisierst. Du kannst da nicht unbeteiligt sein, im Gegenteil, deine Kritik wird zu deiner Herzensangelegenheit.

Ein Irrtum zu glauben, Kritik müsse immer sachlich bleiben, gern von Personen geäussert, die im Gespräch bleiben wollen, koste es, was es wolle.

Jede Kritik kann ihrerseits zu einem kritikwürdigen Gegenstand werden.