Man lebt nicht von der Kunst allein


Diese ernüchternde Tatsache betrifft viele zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler. Angewiesen auf den Verkauf ihrer Werke sehen sie sich mehr oder weniger ausgeprägten finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert. Ob Tantiemen für Musik, Literatur und Schauspiel, oder Verkaufserlöse im Bereich Bildender Kunst, Fakt ist: Künstlerinnen und Künstler leben vom Verkauf, sofern sie verkaufen. Diese Aussage wirft ein bezeichnendes Licht auf ihre nicht nur gegenwärtige Stellung in der Gesellschaft.

Irgendwann im Verlauf der Entwicklung menschlichen Zusammenlebens begann der Mensch seine Kreativität auch außerhalb alltäglicher Überlebensstrategien zu entfalten. Die Notwendigkeit das Leben in einer feindlich und bedrohend erlebten Umwelt zu meistern, wurde durchlässig für Beschäftigungen, die nicht ausschließlich ihr gehorchten. Vielleicht war das die Geburtsstunde der Kunst. Fortan schufen, von der Gemeinschaft bestimmte Künstlerspezialisten, was die Gemeinschaft ästhetisch (und lange Zeit ästhetisch-religiös) für sinn- und wertvoll erachtete. Sie wurden von der Gesellschaft, bzw. einer repräsentativen gesellschaftlichen Gruppierung ausgewählt und für die Produktion von Kunst freigestellt. Gleichzeitig, quasi als Gegenleistung, gewährleistete ebendiese Gesellschaft ihre Existenz. Während der frühe Künstler Stein oder Holz behaute, Wände bemalte oder Keramik, bestellten andere seinen Acker. Sie sicherten ihm so seinen Lebensunterhalt und wurden im Gegenzug von ihm in ihrem Lebensvollzug ästhetisch begleitet und bereichert. Im Grunde genommen hat sich daran bis heute nichts geändert: Eine Gemeinschaft entscheidet, ob und in welchem Ausmaß sie Kunst für sich beansprucht und Produzentinnen und Produzenten, auf welche Weise auch immer, existentiell absichert.

Die Rolle des eigenständig agierenden "homo creatus" der Gegenwart ist keineswegs selbstverständlich. Sie hat sich, beginnend in der Renaissance, nach und nach über die Jahrhunderte herausgebildet. Kirchliche und weltliche Autoritäten aller Hierarchieebenen zeichneten zunächst als maßgebliche Auftraggeber verantwortlich. Der Künstler wurde bezahlt für die Gestaltung dessen, was von ihm seitens der Herrschenden verlangt wurde. Einen Überfluss an Kunst gab es nicht, da ihre Realisierung weitgehend auftragsbezogen war. Kein Auftrag, kein Geld, keine Kunst.
Spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts begannen sich Künstler langsam von diesem Produktionsverhältnis, das ihnen zwar das Auskommen sicherte, aber auch vorschrieb, was sie wie herzustellen hatten, zu verabschieden. Von nun an setzten sie sich ihre bildnerischen Aufgaben und Ziele selbst. Auftragskunst verlor ihre Vorrangstellung. Im Kielwasser dieses künstlerischen Freiheitsgewinns, dieser scheinbar errungenen Autonomie des Künstlers und zunehmend auch der Künstlerin sowie ihrer Werke, schwamm ab jetzt allerdings die Existenzangst mit. Nicht ohne weiteres konnten sie damit rechnen, Käufer für ihre Originale zu finden, vor allem wenn diese nicht dem Zeitgeschmack entsprachen.
Angekommen im 21. Jahrhundert, der oben skizzierten Arbeitsteilung im Rahmen eines gesellschaftlichen Auftrages zur Herstellung von Kunst weitgehend entfremdet, arbeiten Künstlerinnen und Künstler mehrheitlich auftragslos, ganz aus sich und im Erleben ihrer Zeit. Nicht mehr der von außen kommende Auftrag bestimmt ihr Tun, sondern das innen sich einstellende und gleichzeitig außen sich vollziehende Procedere intuitiver Gestaltung. Die Freistellung für ihre künstlerische Arbeit und die Sicherung ihrer Existenz seitens der Gesellschaft sind hauptsächlich über den nachträglichen Verkauf ihrer Kunst garantiert, kaufwillige Interessentinnen und Interessenten vorausgesetzt.
Handelten die Kunstproduzenten in zurückliegenden Zeiten im gesellschaftlichen Auftrag und wurden dementsprechend behandelt, agieren sie heute selbstverantwortet und im glücklichen, allerdings eher seltenen Fall selbstversorgend. In der überwiegenden Mehrheit benötigen sie finanzielle Förderung, die - mehr oder weniger deutlich - von Mäzeninnen und Mäzenen, Lebenspartnerinnen und Lebenspartnern, kunstfokussierten Institutionen und/oder dem Staat (hinter dem letztendlich die Allgemeinheit steht) gewährleistet wird. Möglicherweise versuchen sie auch außerhalb ihrer Kunstprofession Geld zu verdienen, um sich finanziell über Wasser zu halten. Sofern sie über eine zusätzliche berufliche Qualifikation verfügen, zum Beispiel im pädagogischen Bereich, stellt dies eine hilfreiche Kombination dar. Allerdings kann sich ein reiner Broterwerb einschränkend auf die Kunstproduktion auswirken. Die für die gestalterische Arbeit zur Verfügung stehende Zeit wird knapp, die Energie, sich den anstrengenden Herausforderungen eines oft unwägbaren Entstehungsprozesses moderner Kunst zu stellen, kann beeinträchtigt sein und/oder sogar ganz schwinden. Die scheinbar errungene Kunstautonomie fällt den Zwängen der Existenzsicherung zum Opfer.

Angesichts dieser Tatsache drängt sich die Erkenntnis auf, dass die scheinbare Selbstbestimmtheit der zeitgenössischen Expertinnen und Experten in Sachen Kunst teuer bezahlt werden muss. Ihr Preis ist eine schleichende, allgegenwärtige Existenzunsicherheit, die bei finanziellem Misserfolg - der nicht unbedingt mit minderer Qualität der künstlerischen Arbeit gleichzusetzen ist - an die Stelle der Abhängigkeit vom einstigen Auftraggeber die Abhängigkeit von staatlichen und/oder privaten Versorgern stellt. Die Kunstschaffenden leben zwar für die Kunst, im gelingenden Fall in und aus ihr, aber sie können nicht von ihr leben.
Wollen sie die nötige Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit für ihr Werk herstellen (im Hinblick auf Verkauf ihrer Kunstprodukte unabdingbar, denn nur über ihn können sie ihr Leben finanzieren), müssen sie sich auf irgendeine Weise mit den für Präsentation und Vermarktung maßgeblichen Institutionen arrangieren.

Kunsthallen, Museen, Kunstvereine und Galerien bilden für den künstlerisch-rezeptiven Diskurs vorgesehene und spezialisierte Orte. Sie können Künstlerinnen und Künstlern Weltruhm bescheren (mitunter erst nach ihrem Ableben), sie können ihnen aber auch - ähnlich mächtig und einflussreich wie die kirchlichen und weltlichen Machtzentren der Vergangenheit - den Zugang verwehren. Für Außenstehende ist schwer durchschaubar, welche Kriterien Einlass gewähren. Zu glauben, dies hänge ausschließlich von der Güte künstlerischer Arbeit ab, wäre irrig, ebenso die Annahme, in den Räumen dieser Ausstellungsinstitutionen würde ausschließlich und immer Topqualität zeitgenössischer Kunst präsentiert. Allgemein verbindliche, qualitative Beurteilungskriterien, die Orientierung geben könnten, sind vage (auch der Abschluss einer kunstakademischen Ausbildung stellt nicht unbedingt eine Garantie dar).
Letztlich zeichnen auch die Kunstschaffenden selbst für diese Entwicklung verantwortlich. Mit dem Bruch traditioneller Tabus, mit der Sprengung überkommener formal-inhaltlicher Fesseln haben sie erklärtermaßen Kunst aller verbindlichen Qualitätskriterien entkleidet, sie zu einem höchst subjektiven Ereignis einerseits erweitert, andererseits verengt. Kunst der Gegenwart trägt dem anschaulich Rechnung.
Es wäre hilfreich, diese Erkenntnisse zur Grundlage gegenwärtigen Kunstdiskurses zu machen. Das Vorläufige und Unabgeschlossene zeitgenössischer Kunstproduktion, ihr unvorhersehbares, in seinen Auswirkungen nicht zu überblickendes Ereignis muss sich darüber hinaus per se einer (end)gültigen Qualitätsbestimmung entziehen. Dazu bedarf es gerade auch zeitlicher Distanz, die zur Gegenwart nur unvollkommen herzustellen ist.

Der gesellschaftliche Umgang mit Kunst, wie er sich in den vielfältigen Ausstellungsaktivitäten der dafür vorgesehenen Institutionen widerspiegelt, unterliegt einem ständig steigenden Innovationsdruck. Der eigentliche Gegenstand kunstrezeptiven Handelns, die Kunst selbst, tritt in den Hintergrund. Dazu tragen falsch verstandene und überzogene Effizienzansprüche seitens von Geldgebern (Land, Kommunen, Sponsoren, Freundeskreise, etc.) genauso bei wie (kunst)wertsteigernde Aktivitäten von Sammlerinnen und Sammlern und einseitig profilorientierten Kuratorinnen und Kuratoren. Kunsttätige finden, wenn überhaupt, nur Zugang, wenn sie sich dem Konzept der “Künstler-KuratorenInnen” anpassen, d.h. bereit sind, sich unter ihren vorgegebenen Themen zusammen mit anderen Kolleginnen und Kollegen subsummieren zu lassen. Dies schadet ihnen mehr, als es ihnen nützt. Die kreativen Lorbeeren ernten andere. Die Kunstkritiken der Feuilletons geben davon beredte Auskunft. Indem Kuratorinnen und Kuratoren ihren Ausstellungsaktivitäten eine thematische Infrastruktur verleihen, der sich die beteiligten Künstlerinnen und Künstler unterzuordnen haben (wollen sie ihre Arbeit veröffentlicht sehen), erheben sie sie in den scheinbaren Rang von Kunstwerken. Die Performance erlangt größere Aufmerksamkeit als ihr Inhalt, das Ausgestellte selbst. Inwieweit Kuratorinnen und Kuratoren hier ihre Kompetenzen überschreiten, mag dahin gestellt sein, im Einzelfall durchaus unterschiedlich erscheinen. Die Arbeit einer unbekannten Gegenwartskünstlerin, eines unbekannten Gegenwartskünstlers im Rahmen einer Einzelausstellung zu rezipieren, bedeutet für Ausstellungsmacherinnen und -macher ein hohes Risiko (siehe oben skizziertes Wagnis moderner Kunstproduktion). Sie beziehen Stellung angesichts fehlender Beurteilungskriterien für zeitgenössische Kunst. Die ehrliche, aber subjektive Aussage “das stimmt” konterkariert ihre Intention und macht sie angreifbar in ihrer kuratorischen Profession. Sie sehen sich den widerstreitenden Meinungen und (Vor)Urteilen der Kunst kritisierenden Feuilletons ausgesetzt, die mehr oder weniger bewusst die unangefochtene Macht des Expertenurteils beanspruchen.

Auf andere Weise sind Galeristinnen und Galeristen, traditionelle Bindeglieder zwischen Kunstproduktion und Kunstrezeption, in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt. Sofern nicht finanziell unabhängig, sind sie den ungeschriebenen Gesetzen des Kunstmarktes unterworfen. Das heißt, auch sie wie die Kunstschaffenden selbst wollen und müssen verkaufen. Diesem Ziel ordnen sie die zu präsentierenden Werke samt ihrer Urheberinnen und Urheber unter. Ihnen steht dabei eine riesige Auswahl zur Verfügung, gibt es doch Kunst im Überfluss. Das Handeln der Galeristin, des Galeristen wird, mal mehr, mal weniger, von einer ausgeprägten Gewinnerzielungsabsicht bestimmt sein. Dies nützt natürlich auch der Künstlerin und dem Künstler. Im Mittelpunkt droht aber weniger die Kunst als ihre Verkaufbarkeit zu stehen.

Sich ausserhalb der offiziellen Kunstzentren zu profilieren, den dazu gehörenden Kunstmarkt zu umgehen, bietet Kunstschaffenden möglicherweise eine zusätzliche, in manchen Fällen vielleicht die einzige Option zur Existenzsicherung. In der Realität allerdings sehen sie sich nur einer weiteren, kaum zu bewältigenden Herausforderung gegenübergestellt. Sofern sie die Entscheidungsträger eventuell in Frage kommender, kunstferner Präsentationsorte überhaupt erreichen, werden sie im besten Fall auf wohlwollende Ratlosigkeit, eher aber auf weitgehendes Unverständnis in Sachen Kunst und daraus resultierender Ablehnung stoßen. Für ihre Position und ihr Anliegen, das eigene Werk im Rahmen einer betrieblichen oder institutionellen Präsentation vorzustellen und damit einer Firma, Institution, Praxis und/oder einem Privatraum zu einem zusätzlichen Profil zu verhelfen, werden sie Verständnis und Realisierungsbereitschaft erst wecken müssen. In der Mehrheit der Fälle werden ihre Bemühungen schon im Vorfeld an fehlender Motivation seitens der Adressaten scheitern.

Die dargestellten, tendenziell unfreundlichen und unerfreulichen beruflichen Aussichten zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler lassen eines besonders deutlich hervortreten. Zwischen der Herstellung von Kunst und ihrer Vermarktung im Sinne finanzieller Existenzsicherung besteht ein gravierender Unterschied: das eine hat unmittelbar mit dem anderen nichts zu tun.
Kunst ist nicht lebensnotwendig. Das ist ihre große Freiheit und zugleich ihre größte Fessel, sofern sie etwas zum Lebensunterhalt beitragen soll.

AFG 2007/2012


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