Die Arbeit des Sisyphos


Man sagt leichthin "Das ist eine Sisyphosarbeit" und kennzeichnet damit eine komplizierte Tätigkeit, die sich lange hinziehen wird und sinnlos erscheint. Diese, heute vielleicht etwas aus der Mode gekommene Feststellung fußt auf einer sehr alten Erzählung, einem griechischen Mythos aus Homers Zeit. Gute 3000 Jahre hat sie überdauert, nimmt man Homer als Ausgangspunkt.

Was hat es auf sich mit der Arbeit des Sisyphos? Nichts anderes als dass er eine solche aufgetragen bekam und zwar auf ewig. Der Mythos erzählt, dass Sisyphos einen Stein bergauf zu wälzen hatte, der, bei Erreichen des Gipfels, unaufhaltsam seinen Händen entglitt, um wieder zu Tal zu rollen, von wo aus Sisyphos ihn wieder hinauf zum Gipfel stemmen musste.
Auch ohne dass man es weiss, denkt man sofort an Bestrafung. Wem sonst als einem straffällig Gewordenen bürdet man solch' eine Arbeit auf. Fragt sich, was derjenige verbrochen hat, dass man ihn solcherart zur Ordnung ruft.

Sisyphos wird zum Mitwisser eines göttlichen Vergehens, ob unfreiwillig oder mit Vorsatz ist schwer zu sagen. Von seinem, auf einem hohen Felsen gelegenen Wohnsitz in Ephyra, dem späteren Korinth (dessen Gründung ihm zugeschrieben wird) beobachtet er die Entführung der Aigina, Tochter des Flussgottes Asopos, durch den liebeshungrigen Götterchef Zeus. Statt nun diese brisante Geschichte für sich zu behalten, gibt er sie an den besorgten Vater weiter. Nicht ganz uneigennützig, lässt doch Asopos als Gegenleistung eine Quelle auf seinem hoch gelegenen, bisher wasserlosen Grundstück entspringen. Diesen selbstbezogenen, eigennützigen Verrat nehmen die Götter übel, insbesondere Zeus. Thanatos, der Gott des Todes, erhält den Auftrag, Sisyphos in die Unterwelt abzuführen. Doch gelingt es Sisyphos, diesen zu überwältigen und zu fesseln, womit er ihn aus der Welt schafft und die menschliche Sehnsucht nach Unsterblichkeit verwirklicht. Zumindest kurzfristig, denn Ares, der Kriegsgott, befreit Thanatos und gemeinsam schleppen sie den Aufmüpfigen in den Hades, die Unterwelt, nicht ohne ihn zuvor großzügiger Weise Abschied nehmen zu lassen von Frau und Kindern. Diesen kurzen Aufschub benützt Sisyphos für eine List. Er untersagt seiner Frau die vorgeschriebenen Opferungen für die Unterweltherrscher Hades und Persephone. Diese wundern sich über das Ausbleiben der gewohnten Opfergaben, womit Sisyphos gerechnet hat. Mit einschmeichelnden Worten, die vor allem das Frauenherz Persephones erweichen, überzeugt er sie von der Notwendigkeit, ihm die Rückkehr unter die Sterblichen zu erlauben: nur er wäre in der Lage, für ein ordnungsgemäßes Darbringen der Opfer zu sorgen. Wieder auf Erden, im Kreis seiner Familie, denkt Sisyphos nicht im entferntesten daran, in die wenig anziehende Unterwelt zurückzukehren. Im mediterranen Licht seines wiedergewonnenen Erdendaseins genießt er die Illusion ewigen Lebens. Doch richten ihn die Götter hart, allen voran Zeus, der übergriffige Übeltäter. Sie setzen nicht nur seinem Leben ein Ende, sondern bestrafen ihn auch grausam für seinen Verrat und Betrug (siehe "Die Mythologie der Griechen, Band II: Die Heroengeschichten" Karl Kerényi, dtv München, 1966, S. 67 ff.).

Vor dem Hintergrund dieser turbulenten Geschichte könnte man fast Sorge haben, durch ein leichtfertig dahin gesagtes "Das ist aber eine Sisyphosarbeit" in Sippenhaft genommen zu werden, ist Sisyphos doch unser Vorfahre, nicht mehr ganz Gott, aber auch noch nicht ganz Mensch, Heros eben, ein Held der Vorgeschichte. Wer weiss, vielleicht schmachtet er am Ende stellvertretend für seine Nachkommen, uns Menschen, im Tartarus, der Unterwelt der Unterwelt, und verrichtet dort seine endlose Arbeit.

Sein mehr oder weniger unfreiwilliges (Mit)Wissen und sein im Mythos geschilderter Umgang damit werden ihm zum Verhängnis. Zunächst wohlwollend von den Göttern behandelt, er vermag zum Beispiel ihre Stimmen zu hören, lassen diese ihn fallen, als er selbstbezogen ihren eigenen Interessen zuwiderläuft. Sie kennen keine Skrupel. Eigentlich müsste Sisyphos ja wissen, dass er keine Chance hat, dass sein ihm zur Verfügung stehender Handlungsspielraum verschwindend gering, er letztendlich machtlos ist. Trotzdem begehrt er kreativ und beherzt auf gegenüber einer erschreckend menschlich gestrickten, göttlichen Diktatur, die sich, zumindest zeitweise, tölpelhaft an der Nase herumführen lässt.
Dabei ist sein Verrat göttlichen Fehlverhaltens zum eigenen Nutzen von eher untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist sein Streben nach Unsterblichkeit. Sisyphos der Kluge, der Schlaue, Sisyphos der Listige, der Götter täuscht und den Tod überwindet: Das ist der Tatbestand, das stellt das eigentliche Vergehen dar. Die klare Trennung der Göttersphäre vom Dasein der Sterblichen, Zentralgebot der Beziehung zwischen Gott und Mensch, ist unantastbar, sie aufzuheben ein Sakrileg.
Auch Adam und Eva vergehen sich gegen dieses Trennungsgebot. Nicht ausschließlich der Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis (von Gut und Böse) zieht ihre Vertreibung nach sich. Gottes Sorge, sie könnten auch Früchte vom Baum des Lebens kosten und Unsterblichkeit erlangen, wirft sie in irdische Mühsal. "Dann sprach Jahwe Gott: "Siehe, der Mensch ist geworden wie einer von uns, so daß er Gutes und Böses erkennt. Daß er nun aber nicht seine Hand ausstrecke und auch von dem Baum des Lebens nehme und esse und ewig lebe!" Darum entfernte ihn Jahwe Gott aus dem Garten Eden, damit er den Erdboden bearbeite, von dem er genommen ist." ("Die Bibel Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Bundes", Genesis Der Sündenfall 22/23, Verlag Herder Freiburg im Breisgau, 1966) Der alttestamentarische Gott wie die antiken Götter dulden keine Partner auf Augenhöhe. Die Macht der Götter markiert die Ohnmacht des Menschen.

Der Mythos von Sisyphos, göttliche Offenbarung oder menschliche Intuition, das eine im anderen und/oder umgekehrt? - Fakt ist das Werk in Form des Mythos, geschaffen vom Menschen für den Menschen. Fakt ist der Mythos als bildmächtige Erzählung, den der Mensch zur Welt bringt und damit Welt verarbeitet. Fakt ist der Mensch als Hauptakteur dieser seiner eigenen Geschichte, in der sich seine tief empfindende, Dasein verarbeitende Phantasie offenbart. Der Mensch, zugleich Absender wie Empfänger einer künstlerischen Selbstschöpfung, die er ausdrucksstark sich selbst erzählt, als ob er nur im Erzählen seine irdische Situation entsprechend realisieren und ansatzweise reflektieren könnte. Der Mensch im Dialog mit sich selbst.

"Es ist nicht schwer zu verstehen: Sisyphos ist der absurde Held." ("Der Mythos des Sisyphos", Albert Camus, Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg, 1999, S. 156) Seine Strafarbeit, eine Last in Form eines Felsens zu einem Gipfel hinauf zu schaffen, die dann doch wieder zu Tal rollen wird, löst unmittelbar eine absurde (widersinnige) Empfindung aus: Vergeblichkeit. Hat den, der zu ihr verurteilt wurde, nicht ein schreckliches Los getroffen?
Wir erblicken Sisyphos neben seiner Last am Fuß des Berges. Soeben kehrte er den Berghang herab zurück zu seinem Fels und bereitet sich jetzt auf einen erneuten, anstrengenden Aufstieg vor. Einmal mehr steht er vor seiner ihm zugemessenen Aufgabe, die ihn bei jedem Aufstieg an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit bringt. Seine Kräfte reichen gerade aus, die zugewiesene Last zu stemmen. Manchmal drückt sie ihn zurück, droht ihm zu entgleiten, ihn zu überwältigen gar. Doch hält er immer Stand. Er erreicht den Gipfel jedes Mal.
Der Gipfel, vielleicht ein kleines Plateau vor unendlich nah erscheinendem Unterweltsgrau. Der Stein hat sich befreit (wie auch immer) und poltert zu Tal. Sisyphos hat es geschafft, für diesmal. Statt nun sofort umzukehren und dem Stein bergab zu folgen, legt er eine Rast ein. Die Arbeit hat ihn ermüdet, doch nicht zermürbt. Kurz blickt er zurück auf seinen erfolgreichen Aufstieg, auf das Erreichte, so vergeblich und sinnlos es auch scheinen mag. Dann begrüßt er den Gipfel als Ort einer willkommenen Abwechslung. Er nimmt sich etwas Zeit, lässt sich nieder, ruht aus und hängt in Muße seinen Gedanken nach. Darin besteht seine, nicht unerhebliche Freiheit, denn niemand schreibt ihm vor wie er mit seiner sinnlosen Aufgabe zu verfahren hat (Zeit spielt in der Unterwelt keine Rolle). Einzig dass sie ist, ausweglos und immer während, hält ihn im Strafvollzug. Das müßige Gipfelerlebnis könnte fast so etwas wie Glück bedeuten, ein vorübergehendes Glück. Es stünde damit in ausgeprägtem Gegensatz zur Beschwerlichkeit des Aufstiegs. Und dieses Glücksempfinden könnte sogar noch nachschwingen beim Abstieg hinunter zum wartenden Fels. Sisyphos schlendert bergab, da und dort sich hinwendend, angezogen von dieser oder jener Wahrnehmung, in der sein Gipfelglück noch nachzuklingen vermag.
Die eigentliche Strafe des Sisyphos läge, so betrachtet, weniger im Ablauf seiner Aufgabe, die neben Anstrengung auch Entspannung und möglicherweise sogar Glücksempfindungen bereit hält. Die nicht wegzudiskutierende Tatsache endlos fortdauernder Wiederholung, ihre ewige, Zeit und Raum verschlingende Wiederkehr wirft einen gewaltigen Schatten auf sein Tun.

Werden und Vergehen, Geburt und Tod. Darüber besitzt der Mensch, Nachfahre des Sisyphos, keine Verfügungsgewalt. Er wird geboren, er muss sterben, ungefragt, irgendwann, irgendwo, irgendwie. Die ihm zur Verfügung stehende Lebensspanne konfrontiert ihn retrospektiv wie prospektiv mit diesen Grundbedingungen seiner Existenz.
Einst entwarf er den Mythos (des Sisyphos), um das Erleben seiner Lebenswirklichkeit in Form erzählender Dichtkunst auszudrücken. Heute formuliert er statt dessen wissenschaftlich exakte Fragen und findet äusserst differenzierte, tiefgründige Antworten. Seine Welt(er)kenntnis wächst, im Großen wie im Kleinen, auch die (Er)Kenntnis seiner selbst. Das eigentliche Rätsel seines Daseins allerdings wächst mit: Was war vor der Geburt, was wird nach dem Tod sein?
Der Mensch registriert, je bewusster umso deutlicher, die Erfolglosigkeit dieses Rätselratens. Wie Sisyphos seinem Geschick steht er dieser seiner Erkenntnisgrenze ohnmächtig gegenüber. Sie ist sein Stein, den er, ob er will oder nicht, ein Leben lang vor sich her wälzt, sorgfältig darauf achtend, nicht überrollt zu werden. Da der Stein, dort der Berg mit seinem Gipfel, unten die Talsohle.

Die Bedingtheit seines Daseins, wie sie sich aus Geborenwerden und Sterbenmüssen ergibt, ist reales Erlebnis auch und vielleicht gerade des modernen Menschen. Er ist gut beraten, sich im Hinblick auf seine Existenz keiner Illusion hinzugeben. Sein Forschen sollte wissen - auch wenn es dieses Wissen zuzeiten außer Acht lässt - , dass es immer wieder am unlösbaren Problem eigenen, durch Geburt und Tod markierten Seins Anstoß nehmen wird. Dennoch: der Mensch will erkennen und wird immer wieder erkennen wollen. Und immer wird ihn dabei eine unbestimmte, unstillbare Sehnsucht nach erfüllender Gewissheit bedrängen, die allein sein errungenes Wissen über sich selbst hinaus vertrauenswürdig machen könnte. Seine eigene, vorübergehende Existenz ist ihm gewiss, wenigstens das. Innerhalb ihrer weiss er manches, wenn auch nicht alles. Seine persönlichen Erfahrungen, um welche auch immer es sich dabei handeln mag, kann ihm niemand streitig machen. Darüber hinaus aber reicht nur noch ein spekulatives Ahnen, das unaufhörlich aus dem Rätselspiel eigenen, existentiellen Fragens hervorgeht.
Die antiken Götter haben den Olymp verlassen. Ortlos und erfahrungsfern ist Gott geworden, fragwürdig seine Existenz. Das Paradies - auch es Teil eines Mythos, einer Geschichte des Menschen für den Menschen - ist verloren, eine Rückkehr unmöglich. Man verliert es nur einmal, dann aber unwiderruflich. Der Mensch und sein Leben, der Mensch und die Bedingtheit seines Lebens, der Mensch und seine Sisyphosarbeit!

Vielfältiges Forschen, vielfältiges Irren. Taten und ihre, wiederum neue Taten nach sich ziehenden Folgen. Erkenntnisfragmente, die neue Fragen aufwerfen und zu neuen Erkenntnisbruchstücken führen. Fragen, Antworten, Irren, Fragen, .....
Analysieren und Strukturieren als bloße Überlebensstrategie? “Quod erat demonstrandum”, kurzfristig? - Existentielle Balance angesichts von Geburt und Tod ist mit Logik allein nicht zu realisieren. "Der absurde Held Sisyphos" bringt diese Erkenntnis ausdrucksstark auf den Punkt. Sich im Auf und Ab seines Daseins existentiell zu behaupten, ist individuelle Aufgabe allein des Menschen. Einzigartiges Ziel und reine Vorläufigkeit in einem. Ein dynamischer, nie zum Ende findender Prozess. Eine Herausforderung, die ihn in der Summe seiner wachsenden Möglichkeiten mit wachsend beansprucht ohne Aussicht, sie je meistern zu können. Wer sonst sollte sich ihr stellen, wer sonst sähe sich ihr ausgesetzt? Unerheblich, wem der Mensch sie zu verdanken hat und weswegen. Als selbstauferlegt betrachtet er sie, als etwas, das er sich selbst und nur sich selbst schuldet. Er lebt mit ihr. Er hasst sie und er liebt sie. Er macht sie sich voll und ganz zu eigen, als ob alles in Zeit und Raum nur ihn beträfe. Das ist seine Freiheit, die er selbstbewusst für sich reklamiert. Aus dieser Freiheit kann sein, wenn auch vorübergehendes, Glück entspringen. Der Hauptakteur ist er wie Sisyphos in seiner Geschichte, seit jener Zeit, als Zeus ihn in den Tartarus verbannte.

Dort steht er am Fuße des Berges neben seiner Last. Den Gipfel ahnt er fern. Unzählig die Spuren seiner Auf- und Abstiege. Unendliche Melodien der Freude und des Schmerzes, des Scheiterns und des Gelingens. Er ergreift den Stein und macht sich auf den Weg.

AFG 2011/2012

Literatur
“Die Mythologie der Griechen Band II: Die Heroengeschichten" Karl Kerényi, Deutscher Taschenbuch Verlag München, 1966
"Die Bibel Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Bundes", Verlag Herder Freiburg im Breisgau, 1966
“Der Mythos des Sisyphos” Albert Camus, Rowohlt Verlag Reinbek bei Hamburg, 1999



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