Die Hauptstadt empfängt mich bei trübem Wetter, obwohl es nicht sonderlich kalt ist. Diesmal kein „Haste mal’n Euro“ in der S-Bahn. Die Leute eher entspannt, trotz der Einschränkungen. Die Frau hinter dem Ladentisch allerdings hat die Schnauze voll, sie sehnt sich nach Normalisierung, das heißt im Klartext: Freiheit. Ihr Kuchen, lecker und üppig wie immer, ersetzt eine Mahlzeit.
So richtig weiß ich nicht, warum viele gerade diese Stadt toll finden. Großstadt, sicher. Aber Chic und Charme? Vielleicht eine jahreszeitenspezifische (Fahr) Lässigkeit, Verwahrlosung inbegriffen, eine Lässigkeit, die manchmal auch Spaß machen kann (wenn die Sonne scheint und die ersten Kastanienblüten sich zum Himmel strecken, aber wehe, es wird Herbst). Und die Kultur, ja, ja ... Man müsste Menschen treffen, wie überall, wo man nicht dazu gehört. Und man trifft sie, ist man nur ein wenig freundlich und offen. Und dann schmeckt plötzlich auch das Einfache wie eine Delikatesse.

Ein Cappuccino kann so oder so serviert werden, kann so oder so schmecken. Der hier, der gerade vor mir steht, hat wenig Hingabe erlebt. Lauwarm, unterschäumt, ohne Herz obenauf und innen drin.

Manche Menschen kontrollieren gern, zum Beispiel den Impfnachweis. Andern ist das eher peinlich. Letztere sind mir angenehmer.

Die, zum Beispiel, die mich im Restaurant mit ausgesprochen systemrelevanter Gebärde kontrolliert, bevor ich meinen Platz einnehmen kann, mach’ ich klar und deutlich auf ihre Versäumnisse aufmerksam.

Menschen, die sich übertrieben systemkonform benehmen, waren und sind mir suspekt. Man lernt sie leider immer erst dann kennen, wenn das System übergriffig wird, sonst könnte man schon vorher einen großen Bogen um sie machen.

”Wird ja auch alles frisch gemacht”, schmettert die umfangreiche Bedienfrau durchs Lokal und schiebt ihre Leibesfülle in die Küche. In der Speisekarte finden sich (per Fußnoten unter den einzelnen Gerichten aufgeführt) allerlei zusatzstoffliche Hilfsmittel, die der Haltbarkeit dienen (also wenn’s dann mal mit der Frische eng wird).

Gestern dachte ich noch, es ginge mir gut. Heute geht’s mir besser. Da kann es mir gestern nicht gut gegangen sein.

Missgelaunt und irgendwie abgespannt komme ich auf dem Rückweg zum Hotel an einer Bar vorbei. Bekannte hatten mich zum Abendessen eingeladen, aber das Essen war schlecht gewesen, die Gespräche uninteressant. Aus der Bar tönt es. Jazz, eindeutig, angenehm swingender Jazz. Wie angewurzelt bleibe ich stehen und schaue durch die große Fensterfront ins Innere. Ein Gitarrist ist zu erkennen, neben ihm einer, der den Kontrabass bearbeitet und dahinter ein Mann am Klavier. Es ist noch nicht zu spät für einen Drink und die Musik der Drei belebt mich ungemein. Mit zwei Gin Tonic spüle ich den misslungenen Abend hinunter.

Einige Widerstände habe ich überwunden, nur den widerständigsten (noch?) nicht, mich selbst. Bislang bin ich mir nicht gewachsen.

Eng ist diese Stadt nicht. Das kann man ihr wirklich nicht nachsagen.

Träume lebt man nicht, Träume träumt man, und Leben lebt man.